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„Neu sehen“ im Städel : Schauen wie die Frösche, fotografieren wie die Vögel

Sicher in den Lüften: Werbung für die Lufthansa von Karl Krüger, um 1935 Bild: Horst Ziegenfusz

Das Frankfurter Städel präsentiert in der wunderbaren Ausstellung „Neu sehen“ die Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre.

          5 Min.

          Es liegt im Wesen von Feinheiten, dass man nahe herangehen muss, um sie zu erkennen. Das zeigt sich auch bei den Bildern der aktuellen Fotografieausstellung im Frankfurter Städel. Denn nur wer sich dort bis auf wenige Zentimeter den Abzügen nähert, erkennt etwa in Cami und Sasha Stones Foto der Tänzerin Tatjana Barbakoff vier winzige Löcher. Eines in jeder Ecke. Im Katalog eines Auktionshauses würden sie als Mangel beschrieben, hier hingegen verleihen sie dem Abzug seinen besonderen Reiz, weshalb sich die Kuratorin gehütet hat, sie unter dem Passepartout zu verstecken. Die keck dreinschauende Dame, die frech ihre nackten Beine aus dem Kleid streckt, das lässt sich aus den Löchlein schließen, war irgendwann einmal mit Nadeln an eine Wand gepinnt. Womöglich zu Hause bei einem Anhänger ihrer Form des parodistischen Tanzes. Wie ein frühes Starfoto, gleichsam als Ikone gebraucht.

          Freddy Langer
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für das „Reiseblatt“.

          Gebrauchsspuren finden sich auch auf Lotte Jacobis Porträt der Tennisspielerin Paula von Reznicek. Hier hat ein Retuscheur mit spitzer Feder die Linien um die Augen der Sportlerin schwarz nachgezogen und mit einem Pinsel den Hintergrund zur monochromen Fläche verdichtet. Im groben Raster des Zeitungsdrucks war von der Schummelei nichts mehr zu sehen, auf dem originalen Abzug hingegen erinnern die Spuren daran, dass das Bild nie für die Museumswand gedacht war. Vielmehr belieferte die Fotografin mit ihren Aufnahmen die Presse.

          Kommt der neue Fotograf?

          „Neu sehen“ heißt die Ausstellung, die mit ausschließlich originalem Material aus den zwanziger und dreißiger Jahren das genaue Hinschauen zum Fest werden lässt, weil hier jedes Bild zugleich Motiv und authentisches Objekt ist. Aber das „Sehen“ im Titel ist gar nicht so gemeint. Die Formulierung bezieht sich auf einen grundsätzlichen Wandel in der Ästhetik jener Zeit. Da war die Neue Sachlichkeit, deren Fotokünstler die technischen Möglichkeiten des Mediums für Bilder selten erlebter Präzision und Klarheit nutzten. Und da war zugleich ein radikal neuer Weg der Weltbetrachtung, den niemand konsequenter beschritten und beschrieben hat als Werner Gräff mit seinem im Sommer 1929 erschienenen Buch „Es kommt der neue Fotograf“.

          Gut verbunden: Werbeaufnahme von Elisabeth Hase für ein Plakat der Buchdruckerei Erich Norberg ,  um  1935
          Gut verbunden: Werbeaufnahme von Elisabeth Hase für ein Plakat der Buchdruckerei Erich Norberg , um 1935 : Bild: Städel

          Den schmalen Text- und Bildband verstand Gräff als eine Anleitung zur künstlerischen Anarchie, nämlich Konventionen hinter sich zu lassen und gängige Kompositionsprinzipien auszuhebeln. „Die Fotografie“, schrieb er, „ist eine selbständige freie Kunst. Man unterwerfe sie weder fremden und veralteten Gesetzen, noch versklave man sie.“ So forderte er dazu auf, die Kamera vom Boden aus steil nach oben zu richten, senkrecht von Türmen und Balkonen hinunter zu schauen oder den Horizont in die Schräge zu kippen. Er verzerrte und verkürzte Motive durch den Einsatz extremer Objektive, beschnitt die Abzüge zu extremen Proportionen und schuf in Collagen aberwitzige Situationen. Kaum aber hatte Gräff dazu aufgerufen, die Welt mit Hilfe der Fotografie aus den Angeln zu heben, übernahm das die Wirtschaft in viel größerem Maß mit dem Börsenkrach im Herbst desselben Jahres und bald darauf die Politik mit einer Wende, die alles verändern würde.

          Oder bleibt alles nüchtern?

          Werner Gräff setzte sich mit seiner Forderung nicht durch. „Das ungewöhnliche Foto wird nicht mehr lange ungewöhnlich bleiben“, hatte er prophezeit. „Illustrierte Zeitungen nehmen sie mehr und mehr auf.“ Aber so war es nicht. Wertet man die auflagenstarken deutschen Wochenmagazine jener Zeit aus, wie es für den aufwendig recherchierten Katalog zur Ausstellung geschehen ist, ergibt sich, dass unter insgesamt mehr als zehntausend Fotografien gerade einmal 307 Bildbeiträge dem Stil dieses Neuen Sehens zugeordnet werden können – im Schnitt pro Heft ein Einzelbild oder eine Reportage. Und doch scheint uns die künstlerische Bildauffassung von damals vor allem geprägt von der Suche nach neuen Seherfahrungen durch Aufsichten, Untersichten oder Schrägsichten, geradeso, als ballte sich der Zeitgeist – viel mehr als im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit – in diesem revolutionären Blick.

          Rasant  auf der Straße: Kühlerfigur eines Horch  von Max Krajewski, 1928
          Rasant auf der Straße: Kühlerfigur eines Horch von Max Krajewski, 1928 : Bild: Museum

          Zu einer solchen Einschätzung mögen Ausstellungen beigetragen haben, Themenbände zur Fotografie der Moderne, die Autoren von Fotogeschichtsbüchern und nicht zuletzt der Kunstmarkt, der dank seiner Entdeckungen in den Archiven von Unternehmen oder Werbeagenturen der Auftragsfotografie zu Museumsehren verhalf. Was heute unverrückbar im Kanon der Fotografiegeschichte verankert ist, kann ursprünglich für einen Firmenprospekt entstanden sein.

          Es kam in den zwanziger Jahren vieles zusammen, was dem Medium zu einem sensationellen Auftrieb verhalf. Die Erfindung der Leica, also der Kleinbildfotografie, verbilligte das Material nicht nur erheblich, die Kamera ermöglichte fortan ein schnelles Reagieren des Fotografen. Er war stets einsatzbereit. Ohne Aufwand. Und ohne schweres Gepäck. Fortschritte in der Drucktechnik wie­derum ermöglichten die Veröffentlichung von Fotografien bei hoher Qualität im großen Stil, was zu einer immensen Nachfrage an Aufnahmen führte. Und nicht zuletzt boten immer mehr Kunsthochschulen und Akademien Fotografie als Studienfach an – ebenso für Männer wie Frauen: von der Münchner Lehr- und Versuchsanstalt über die Folkwangschule bis zum Bauhaus. Lehrer wie Max Burchartz, Walter Peterhans und László Moholy-Nagy prägten mit ihren hohen Ansprüchen das Stilbewusstsein einer Generation.

          Suche im eigenen Bestand

          Umso mehr überrascht die Vielfalt der Themen und Herangehensweisen in der Fotografie dieser Epoche. Die Frankfurter Ausstellung geht ihr unter sieben Aspekten nach: von der Pressefotografie und dem Porträt über Werbe- und Indus­triefotografie bis zum Einsatz des Mediums für Propagandazwecke. Es ist eine wunderbare Ausstellung, die erste der eigens für die Betreuung der Fotografiesammlung des Hauses vor zwei Jahren angestellten Kuratorin Kristina Lemke. Dabei hat sie sich nur wenige Abzüge aus Privatsammlungen oder von anderen Museen ausgeliehen, die Mehrzahl der Bilder stammt aus dem fünftausend Abzüge umfassenden Sammlungsbestand des Städels. Das sind nicht allesamt Trouvaillen, doch des raffinierten Konzepts wegen bemerkt man das zunächst gar nicht: Kristina Lemke setzt die Bilder zurück in den Kontext, für den sie ursprünglich gemacht wurden oder in dem sie damals veröffentlicht worden sind, und schenkt den Publikationen der Zeit nicht nur ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Bildern, sondern bezieht sich in der Präsentation auch auf deren Layout. So schieben sich an den Wänden immer wieder aufgeschlagene Illustrierte, die Titelseiten von Firmenbroschüren oder Plakate unter die gerahmten Originalabzüge. Diese sind dagegen mitunter verschwindend klein, umso mehr begreift man die Wirkung, die von den Veröffentlichungen ausgegangen ist.

          Elegant am Fuß: Socken, fotografiert von Hans Finsler, 1930/31
          Elegant am Fuß: Socken, fotografiert von Hans Finsler, 1930/31 : Bild: Horst Ziegenfusz

          In der Ausstellung bildet die revolutionäre Ästhetik der neuen Seherfahrungen einen Schwerpunkt, und es sind gerade diese Aufnahmen, die nichts von ihrer Frische und Wucht verloren haben. Ob Karl Krüger zu einer Lufthansa-Maschine hinaufschaut oder Hans Finsler auf adrett ausgelegte Socken hinunter. Wie sehr sich auch die Politik, ebenso der Russischen Revolution wie des Nationalsozialismus, dieses Effekts bedient hat, belegen Aufnahmen aus der Froschper­spektive: hier die eines Trompeters, fotografiert von Alexander Rodtschenko, dort die von Adolf Hitler in energischer Pose, aufgenommen von Heinrich Hoffmann, oder Paul Wolffs aufmarschierende Truppe 1934 auf dem Reichsparteitag.

          Frei von Ideologie freilich sind auch jene Bilder ebenso wenig, die mit Landschaftstrukturen beim Betrachter ein Gefühl für Heimat hervorrufen, wie jene, in denen kantige Gesichter der Landbevölkerung zu Zeichen eines Deutschtums werden. Und schon gar nicht die pathetischen Sportfotografien, entstanden 1936 während der Olympischen Spiele in Berlin. Stromlinienform, Eleganz und Geschwindigkeitsrausch erhalten da im Rückblick einen bitteren Beigeschmack – dabei sollten sie doch Belege sein für die Aufbruchsstimmung des neuen Menschen in die neue Zeit.

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