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Stanley Kubrick als Fotograf : Auf frischer Tat ertappte Vampire

Der Voyeur lässt die Hüllen fallen

Ganz besonders interessierten Kubrick auch die New Yorker Nachtclubs, „Ein Tag mit Showgirl Nanette“ heißt eine Fotoserie, in deren Rahmen auch das offizielle Coverfoto der Ausstellung entstand: Kubrick steht hinter der halbnackten Stripperin vor einem Spiegel und hält sich die Kamera beim Auslösen vor den Bauch. Der Voyeur lässt die Hüllen fallen, er ist hier der eigentlich Nackte.

Nächtliche Liebesszenen auf Feuerleitern fotografierte Kubrick mit einem infraroten Blitzlicht, so dass die aufgeschreckten Pärchen wie auf frischer Tat ertappte Vampire aussehen. Ein anderes, wiederkehrendes Thema: Menschen beim Warten – im Zahnarzt-Vorzimmer, im Wasch- und Hundesalon, am Filmset. Wer so viel Zwischenzeit einfängt, wartet selbst noch, macht jedenfalls deutlich, dass er noch nicht angekommen ist. Kubricks vielleicht berühmtestes Foto zeigt den geflüchteten Maler George Grosz mitten auf der 5th Avenue auf einem Holzstuhl sitzend. Unruhig wirkt er, in Angriffshaltung, ready to go.

So fühlte sich wohl auch der junge Fotoreporter hinter seiner 35-mm-Kleinbildkamera. Die in Auftrag gegebenen stilllebenden Starporträts von Berühmtheiten wie Leonard Bernstein oder Montgomery Clift machten ihm jedenfalls wenig Freude. Seine Begeisterung gehörte damals dem Boxen.

1948 erschien eine Fotoserie über den Profi Walter Cartier. Am Tag eines entscheidenden Kampfes weicht Kubrick ihm nicht von der Seite. Obwohl die Fotos ungewöhnlich lebendig und intim wirken, war Kubrick offensichtlich unzufrieden mit seiner Arbeit, spürte die erzählerischen und atmosphärischen Einschränkungen des Mediums Fotografie. Daher drehte er zusätzlich einen fünfzehnminütigen Dokumentarfilm, der seine Bilder gewissermaßen in Bewegung setzte.

„Day of the Fight“ nannte der einundzwanzigjährige Kubrick sein Filmdebüt, in dem er den zutraulich wirkenden Profiboxer am Tag seines Kampfes zur Kommunion bei der Frühmesse begleitet und ihn bei verschiedenen Vorbereitungen zeigt. Nicht in erster Linie durch die pathetisch kommentierende Erzählerstimme, sondern durch geschickte Bildfolge und Schnitttechnik gelingt es dem Film, ein Gefühl der Ruhelosigkeit und des endlosen Wartens zu vermitteln.

Wenn nach elf Minuten endlich der Gong den Boxkampf eröffnet, gewinnt der Film an Tempo, der Lärm der kreischenden Menge im Saal geht quasi über in die nächste Einstellung, die einen jungen Mann in Downtown vor seinem Transistorradio zeigt. Kubrick dreht aus verschiedenen Blickwinkeln und experimentiert mit dem Schnitt. Während einer Kampfpause nimmt er Cartier in der gegenüberliegenden Ringecke durch die Beine seines Gegners auf.

Kubrick, der nie eine Filmakademie besucht hat und stolzer Autodidakt war, kam über das Foto zum Film. Gerne hat er erzählt, wie ihm der Inhaber seines Fotoladens am Broadway an einem Samstagmorgen zeigte, wie man mit einer Handkamera filmt. Den Schnitt und den richtigen Umgang mit einem Synchronizer brachte ihm ein Freund bei. Und dann, so Kubrick, sei er während seines ersten Drehs immer wieder ins Kino gegangen, um sich von schlechten Filmen ermutigen zu lassen: „Ich sah mir lausige Filme an und sagte zu mir selbst: Ich verstehe zwar nichts vom Filmemachen, aber schlechter machen als die könnte ich es sicher auch nicht.“

Im April 1950 wurde „Day of the Fight“ in New York gezeigt, die Vorführung war ein Erfolg, und Kubrick kündigte seinen Job als Fotoreporter, um einer der bedeutendsten Filmemacher seines Jahrhunderts zu werden. Wer heute nur seine Filme kennt, versäumt die Bekanntschaft mit ihren Ausgangsbedingungen. Die Präzision, die Ästhetik seiner bewegten Bilder ist ein Erbe aus seiner stillen Foto-Zeit.

„Through a Different Lens: Stanley Kubrick Photographs“, Museum of the City of New York, noch bis 28. Oktober. Der Katalog ist bei Taschen erschienen und kostet 50 Euro.

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