Maler Bernhard Kretzschmar : Gespür für Schnee und kleine Leute
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Der Maler Bernhard Kretzschmar war beinahe vergessen. Jetzt wird er in der Dresdner Städtischen Galerie wiederentdeckt. Sie zeigen ein Werk, das es den Interpreten stets schwergemacht hat.
Zu den Kunstwundern von Dresden zählt eine nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufblühende, spezifische Malkultur, deren exemplarische Ausprägungen das Albertinum an der Brühlschen Terrasse bewahrt. Zu den Protagonisten der mit Veduten, Landschaften, Genredarstellungen und Porträts hervorgetretenen Künstler gehört neben Theodor Rosenhauer, Wilhelm Rudolph, Alfred Wigand, Wilhelm Lachnit, Hans Jüchser und Paul Wilhelm der 1972 hochbetagt gestorbene Bernhard Kretzschmar. Ihm widmet die Städtische Galerie gegenwärtig eine Sonderausstellung – keine Retrospektive, denn es ermangeln der Schau die Zeichnungen, die Aquarelle und das unter dem Diktat des Sozialistischen Realismus entstandene, ästhetisch abgefallene Spätwerk. Mit nur 29 Gemälden und dreißig Druckgrafiken konzentriert sich die Übersicht auf Hauptwerke aus der besten Schaffenszeit des als Spätimpressionist stilistisch abgegrenzt produzierenden Malers.
Bereits im Kindesalter tat sich der 1889 im sächsischen Döbeln als Sohn eines Schneidermeisters geborene Künstler mit auffallend korrekten zeichnerischen Wiedergaben seiner Umwelt hervor. Nach einer Lehrzeit als Dekorationsmaler ließ er sich an der Dresdner Kunstakademie zunächst von Oskar Zwintscher, später von Carl Bantzer unterweisen, ehe ihn die Jugendfreunde Conrad Felixmüller und August Böckstiegel, zwei Mitglieder der „Dresdner Sezession“, ins Fahrwasser des aktuellen Expressionismus zogen. Im Umkreis der „Neuen Sachlichkeit“ nicht optimal aufgehoben, suchte Kretzschmar angemessenere formale Möglichkeiten für sein Bestreben, den Alltag der kleinen Leute aus größerer Distanz darzustellen.
Das Glanzstück befindet sich in Privatbesitz
So paradieren festlich gewandete Damen und Herren in Gesellschaft eines dem Stall entlaufenen, veritablen Schweins vor den cremig weißen Fassaden des Erbgerichts Niederpoynitz „Zur Réunion“. 1926, drei Jahre nach seiner Entstehung, aus der Internationalen Kunstausstellung Dresden für die Sammlung Neuer Meister erworben, zeichnen das Frühwerk bereits die gleichen Qualitäten aus wie die „Synagoge“ von 1926, die Ansicht eines Sakralbaus von Gottfried Semper, den die Gläubigen gerade verlassen haben. Als Leihgabe der Berliner Nationalgalerie präsent ist der von Reisenden umwimmelte, erratisch wirkende Backsteinbau des Bahnhofs im erzgebirgischen Sayda. Die Moritzburg in Halle steuerte den 1934 datierten, goyaesken „Falschen Propheten“ bei, das Lindenau-Museum in Altenburg eine Caféhaus-Szene, die das Ausstellungsmotto „Deutung des Daseins“ treffend bestätigt.
Eines der charakteristischen Winterbilder, „Ganz Gostritz und Mokritz“ unter einer dichten Schneedecke, befindet sich im Museum in Chemnitz. Mit Ausnahme der 1937 durch Walter Passarge für die Mannheimer Kunsthalle gesicherten Idylle „Frühlingsblumen und Bäckermädchen“ entstammen alle gezeigten Arbeiten musealen Einrichtungen in den Grenzen der ehemaligen DDR. Bisher noch in Privatbesitz befindet sich das Glanzstück „Vor dem Gasthaus (Döbeln)“, ein Gruppenbild, in dem das rosafarbene Outfit eines weiblichen Gasts als Blickfang fungiert.
Der Bombenhagel vom 14.Februar 1945 brachte Bernhard Kretzschmar um einen Großteil seines sorgsam gehüteten Œuvres. Skeptisch wie eh und je, nun auch den gesellschaftlichen Veränderungen nach Kriegsende gegenüber, präsentiert sich der Maler mit schmalem Pinsel in verkrampften Händen vor der Staffelei. Von den Auftragsarbeiten der Folgejahre, unter ihnen der vom Museum Junge Kunst in Frankfurt (Oder) übernommene Panorama-„Blick auf Eisenhüttenstadt“ und das Porträt von Adolf Hennecke, einem vielfach ausgezeichneten „Helden der Arbeit“, schweigt die Gedenkausstellung.
Für die üppig bestückte, gut gegliederte Grafik-Sektion kann die Städtische Galerie aus eigenem Bestand schöpfen. Gezeigt werden nicht nur Kretzschmars populärste Radierungen „Zigarrenarbeiter“ und der „Tod des Sekretärs“, sondern auch drei Blätter aus der Folge „Um einen Menschen“. Dem Chaos der Studierstube eines „Gottsuchers“ und den als Nachlass-Plünderer in die gute Stube eines Verstorbenen einfallenden „Erben“ kontrastiert die „Letzte Stunde“ eines alten Manns in gespenstisch leerem Raum mit geblähter Gardine vor weit geöffnetem Fenster.
Zeit seines Lebens hat es Bernhard Kretzschmar – mit Ausnahme des Hagiographen Fritz Löffler – Sympathisanten und Interpreten seines Werks schwergemacht. Hochempfindsam und von instabiler Gesundheit, schreckte er vor einer umfassenden Retrospektive zurück. Erst postum war es der (Ost-)Berliner Nationalgalerie möglich, mit achtzig Gemälden, siebzig Aquarellen und Zeichnungen und der gleichen Menge Druckgrafik an das Dresdner Originalgenie zu erinnern. Auf ein verbindliches Werkverzeichnis müssen die Liebhaber der sanften Tonmalerei des Malers mit dem Gespür für die zahllosen Nuancen frisch gefallenen Schnees bis heute verzichten.