Die Welt als Wille und Waldorfkindergarten
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Toxische Vergleiche im Bildkrieg: „Harvesters Resting – Jean Francois Millet (1850)“ von Mohammed Al Hawajri ist eines von mehreren Werken aus dessen Serie „Guernica Gaza“ im WH22 der Documenta. Bild: Lucas Bäuml
Teilen, Mitteilen, gemeinsam Abhängen auf der Documenta 15: Heute beginnen die hundert Tage von Kassel. Die Weltkunstschau stellt die Fragen der Zeit.
Nein, es gibt auf der heute eröffnenden fünfzehnten Documenta Kassel keinen einzigen israelischen Künstler. Dafür gibt es etliche palästinensische Künstler, vor allem in der Documenta-Zweigstelle WH22. Israelis sieht man dort aber durchaus: Auf Mohammed Al Hawajiris panoramaartigen Historienbild „Harvesters Resting – Jean Francois Millet (1850)“ aus seiner Serie „Guernica Gaza“ lauern schwerbewaffnete israelische Soldaten hinter einem Wall aus Betonkuben, um im nächsten Moment die von Millet aus dem neunzehnten Jahrhundert inspirierten, friedlich rastenden Gaza-Bauern hinter der Betonwand zu überfallen und, wie der unheilvoll auffahrende Panzer links andeutet, wahrscheinlich ihr Leben zu bedrohen. Spricht schon das Bild eine eindeutige Sprache, die auch durch die windelweichen Begleittexte nicht aufgefangen wird, ist der Name der Serie „Guernica Gaza“ nicht weniger als eine Verhöhnung der jüdischen Toten des Zweiten Weltkriegs: Die Gleichsetzung der Auslöschung der baskischen Stadt durch die Nationalsozialisten mit den Militäreinsätzen im Gaza-Streifen schreibt der israelischen Armee den Part der Wehrmacht zu, der sie befehligende Staat Israel wird so mit Hitlers Reich verglichen. Picasso kann sich gegen diese pervertierte Instrumentalisierung von „Guernica“ nicht mehr wehren; er rotiert hörbar im Grab.
Das verschwisternde Miteinander und der Ideenaustausch nach dem Lumbung-Reisscheunen-Umverteilungssystem sind für die indonesischen Kuratoren von Ruangrupa zentrale Werte. Aber zur Abbildung der gesamten Welt, wie es diese durch und durch politische und radikal erneuerte Weltkunstausstellung mit Kuratoren aus dem globalen Süden zu Recht fordert und in Kassel umsetzt, gehört dann eben auch das ungeteilte Miteinander und Ausstellen der Gegenseite. Wenn der blinde Fleck Europas der globale Süden ist, dann ist der blinde Fleck dieses Kollektivs aus dem globalen Süden die banale Wahrheit, dass erlittenes Unrecht nicht gegeneinander aufzurechnen und insbesondere in einer Ausstellung, die in Deutschland stattfindet, aktuelles Leiden nicht mit dem Tod von sechs Millionen Menschen zu vergleichen ist.
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