„Diorama“-Schau in der Schirn : Du lebst und tust mir nichts?
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Die Frankfurter Schirn Kunsthalle wirft die Besucher in ein Wechselbad der Gefühle. In der Schau „Diorama“ werden tote Körper mit scheinbar lebenden Bildern kombiniert.
Beim Betreten der Plattform des 360-Grad-Rundgemäldes „Die große Flotte auf der Reede von Spitehead“ am Londoner Leicester Square soll die Prinzessin Charlotte Auguste von Großbritannien 1794 seekrank geworden sein. Der Wirklichkeitseindruck des Panoramas sei so stark gewesen, heißt es, dass die Prinzessin nicht länger zwischen Kunst und Wirklichkeit zu unterscheiden vermochte und im Anblick der gemalten Seekulisse dieselben Symptome der Übelkeit verspürte, die auch ein Aufenthalt an Bord eines Schiffes hervorgerufen hätte.
Der Wahrheitsgehalt dieses Berichts kann bezweifelt werden. Zu sehr erinnert er an die Mythen, die das Auftreten jedes neuen Mediums begleitet haben – die berühmte Gründungslegende des Kinos etwa, nach der das Publikum während der Erstaufführung des Stummfilms „Ankunft des Zuges“ in Panik von seinen Plätzen gewichen sein soll. Auch die Geschichte des Dioramas, neben dem Panorama das zweite große Illusionsmedium des neunzehnten Jahrhunderts, kennt solche Berichte über verwirrte Besucher, die über gemalte Treppenstufen ins Innere des Bildes zu gelangen versuchten oder mit Münzen nach den Dargestellten warfen, um sie zu verscheuchen. So formelhaft diese Schilderungen auch sein mögen – in ihrer Zuspitzung verraten sie doch etwas von den Besonderheiten einer Kunst, die ihre Wirkungen durch größtmögliche Annäherung an das Reale suchte. Eine Frankfurter Ausstellung zur Geschichte des Dioramas bietet nun Gelegenheit, diese Wirklichkeitseffekte am eigenen Leib zu studieren.
Keine niedere Form der Mimesis
Am Beginn stehen diaphane Doppeleffektbilder aus der legendären Sammlung von Werner Nekes, Landschaften und Stadtansichten, die durch Wechsel der Beleuchtungsquellen von Tages- in Nachtszenen übergehen. Hier ist auch die Rekonstruktion eines jener historischen Dioramen zu sehen, wie Louis Jacques Mandé Daguerre sie in seinem Pariser Theater zeigte, bevor er sich ganz seinen fotografischen Experimenten widmete. Der Begriff „Diorama“ umfasst aber nicht nur diese illuminierten, beidseitig bemalten Leinwände, sondern bezeichnet auch alle Arten dreidimensionaler Schaukästen: puppenhausartige Miniaturen, die Szenen aus dem Leben der christlichen Märtyrer nachbilden, aber auch die lebensgroßen Habitat-Dioramen der naturkundlichen Museen. In ihnen trifft die Kunst der Landschaftsmaler auf das Handwerk des Präparators, der in die naturalistischen Landschaftskulissen ausgestopfte Tiere setzte.
Die Besonderheiten des Dioramas lassen sich angesichts der lebensechten Tierpräparate unmittelbar erfahren. Präparate, schreibt der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, sind paradoxe Gebilde: Im Unterschied zu den Schöpfungen der bildenden Kunst handelt es sich nicht im eigentlichen Sinn um Repräsentationen, denn die ausgestopften Tiere sind im Diorama zwar als „sie selbst“ gegenwärtig – leblos, konserviert und für immer erstarrt –, aber zugleich in ihren realen Körpern vorhanden, als seien sie ihre eigenen Überlebenden, Bilder ihrer selbst.
Eines der schönsten Exponate, das um 1870 entstandene Diorama „Happy Family“ des englischen Präparators Walter Potter, vereint auf engem Raum ein solches Ensemble der Untoten. Das weiche Fell einer Hauskatze ist zum Greifen nahe, die Augen des Eichhörnchens funkeln, aber zugleich ist diese Gesellschaft so gespensterhaft erstarrt, dass ihre Gegenwart beim Beschauer den Eindruck des Unheimlichen hervorruft. Hier wird verständlich, warum die klassische Kunsttheorie mit dem Diorama nichts anzufangen wusste. Einer Kunstauffassung, die maßgeblich auf die schöpferischen Leistungen der Einbildungskraft setzte, mussten die Wirklichkeitsanleihen des Dioramas als niedere Form der Mimesis gelten – wie auch im Fall der lebensechten Wachsfiguren oder der mechanischen Abbildungsverfahren der frühen Fotografie.
Die Grenzen verschwimmen
Die Produktion in größeren, arbeitsteiligen Teams widersprach zudem der Idee des aus sich selbst heraus agierenden Genies. Im Rückblick erweisen sich die Illusionstechniken des neunzehnten Jahrhunderts jedoch als integraler und legitimer Bestandteil der Moderne, und allein deshalb lohnt sich der Besuch der Ausstellung.
Bedauerlich ist nur, dass die Kuratoren im letzten, der Gegenwartskunst gewidmeten Raum in klassische Deutungsroutinen zurückfallen, indem sie die künstlerische Anverwandlung des Dioramas als Kritik überholter Konventionen deuten. Dieses Stereotyp einer kritischen Kunst muss immer zuerst einen naiven Betrachter konstruieren, dessen unbedarfte Weltsicht dann im zweiten Schritt durch den reflexiven Einsatz der Kunst entschleiert wird. Dabei zeigen die Exponate der Ausstellung sehr klar, dass bereits das neunzehnte Jahrhundert solche Brüche der Mimesis kannte: die in der Luft erstarrten Vögel werfen Schlagschatten auf die Rückwand des Dioramas und machen so dessen Zweidimensionalität offensichtlich. Immer schon schwankte die Wahrnehmung des Dioramas zwischen der Lust, sich der Illusion hinzugeben, und der Aufmerksamkeit für die Techniken, die diese Illusion zuallererst erzeugten.
Eine wirkliche Entdeckung der Kuratoren sind die bislang unveröffentlichten Diorama-Fotografien von Robert Gober. Bei ihrem Anblick wird einmal mehr offensichtlich, wie sehr heutige Künstler an der Faszination für die Suggestionskraft des Dioramas teilhaben, statt sie im Gestus aufgeklärter Kritik entzaubern zu wollen. Während Hiroshi Sugimoto in seinen Diorama-Fotografien meist auf äußerste Schärfe setzt, zeigt Gober die Dioramen in leichter Unschärfe, so dass die Grenzen zwischen Präparat und gemaltem Hintergrund verschwimmen und den Eindruck erzeugen, hier habe ein Amateurfotograf im Urlaub exotische Landschaften fotografiert.
Auch Sugimoto erweitert die Wirklichkeitseffekte des Dioramas um diejenigen der Fotografie, erzeugt in der Schärfe und Detailgenauigkeit seiner Bilder aber einen bestechenden Eindruck des Hyperrealen. Die zweidimensionale Schwarzweißfotografie nivelliert die Brüche, die im farbigen und dreidimensionalen Diorama unübersehbar sind. Die Bewegungslosigkeit der dargestellten Geschöpfe irritiert den Betrachter nicht mehr als auf jedem anderen fotografischen Bild – nur wundert man sich, wie es Sugimoto Jahrtausende vor der Erfindung der Fotografie gelingen konnte, ein durch den tiefen Schnee spazierendes Neandertaler-Paar aufzunehmen. Erst auf den zweiten Blick durchschaut man die Illusion. Aber das hindert einen nicht, ihr im nächsten Augenblick wieder zu folgen.