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Technoschamanismus : Geisterseher und ihr Geheimwissen

  • -Aktualisiert am

Hexen, Hacker, Dschinn-Figuren: Der Hartware Medienkunstverein in Dortmund öffnet das weite Feld der Kunst des Technoschamanismus.

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          Die Reprovolution kommt. So prophezeit es jedenfalls Transformella. Die Medizinfrau widmet sich der globalen In-vitro-Fertilisation, sie vertieft sich also ganz in die Repro-Realität künstlicher Befruchtung und kreuzt seit einigen Jahren mit Entouragen geladener Gäste in Ikea-Filialen auf, um hier das klassische Familienideal zu hinterfragen und alternative Formen von Kleingemeinschaften zu eruieren. In Düsseldorf-Reisholz stieß eine solche Performance vor einigen Jahren, wie den Anwesenden nicht entgehen konnte, auf kritische Nachfragen des Personals, das mit der externen Beratung nicht ganz einverstanden war.

          Noch aufsässiger dehnte Protektorama, Geistesschwester der Transformella im Zeichen okkulter Intelligenz, 2016 das Hausrecht in einem Berliner Apple-Store in bester Citylage am Kurfürstendamm: Sie verursachte dort an einem Samstagnachmittag einen handfesten Eklat. Die Seelenheilerin hatte Gallium, harmloses, aber gefährlich nach Quecksilber aussehendes Metall, in den Auslagen sich verflüssigen lassen und löste damit einen Polizeieinsatz samt Räumung und Schließung aus. Der Zuspruch von Kapitalismuskritikern war ihr ebenso sicher wie der Thymos des Konzerns.

          Technologisch gestützte Spiritualität

          In der Ausstellung „Technoschamanismus“ des Dortmunder Hartware Medienkunstvereins bekunden sich die Reproduktionstechniken in Objekten, mittels derer In-vitro-Fleisch produziert oder, man höre und staune, Diamanten aus menschlicher Asche gewonnen werden. Die Zylinder aus rotem und weißem Ton sehen aus, als seien sie aus Marcel Du­champs „Großem Glas“ herausgekullert; was der Performance-Künstler Johannes Paul Raether an Zukunftsvisionen entwickelt, ist in der Ausstellung erklärungsbedürftig. Dafür kann man sich eine 3-D-Brille aufsetzen und wird durch seine In­stallation navigiert.

          Warum erfährt eine technologisch gestützte Spiritualität heute einen so spürbaren Auftrieb unter den Künstlerinnen und Künstlern, dass man sich in Madame Blavatskys Zeiten zurückversetzt sehen könnte? Die Iranerin Moreshin Allahyari konfrontiert die Besucher, ebenfalls in Virtual Reality, mit weiblichen Dschinn-Figuren, die in einer Sure des Korans für paranormale Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Anja Dornieden und David González Monroy spüren dem indonesischen wayang topeng nach, einem Schattenspiel zur Totenbeschwörung, das mit maskierten Affen zur Schau getragen wurde, bis es 2013 nach Protesten in Jakarta verboten wurde. Lycile Olympe Haute proklamiert in einem „Cyberwitches-Manifesto“ die Zusammenarbeit von Hexen und Hackern, die sich eigentlich eher fremd gegenüberstehen: „Lasst uns Smartphones und Tarotkarten benutzen, um mit Geistern in Verbindung zu treten“ und feministische Si­gnale zu empfangen.

          Kosmologische Modelle fürs Überleben

          Die Dortmunder Gruppenschau trifft ihre Auswahl nach dem Gesichtspunkt einer gesamtgesellschaftlichen, gar planetarischen Umgestaltung, um die es den Geheimwissenden aus aller Welt zu tun ist. Individuelle Erleuchtung, Egotrip, Selbstoptimierung spielen keine besondere Rolle. Auf dem Spiel steht vielmehr die Heilung von globalen Krankheitssymptomen wie etwa „toxischem Kapitalismus und Extraktivismus“ – der Ausbeutung von Rohstoffen zu Exportzwecken. Welches Wissen von ehedem lohnt, reaktiviert zu werden? Die Künstler be­schwö­ren antirationalistische Praktiken, stützen sich zugleich aber auf neueste Technologie: Schamanismus in magischen Kanälen eben.

          Technisch avanciert und mit glaubhafter Überzeugtheit von der eigenen Mission kommt ein Beitrag von Tabita Rezaire daher. Die in Französisch-Guyana lebende Künstlerin rekonstruiert im ­White Cube einen der zahlreichen Steinkreise, die vor Urzeiten im westafrikanischen Senegambia gelegt worden waren und inzwischen als Weltkulturerbe ausgewiesen sind. Im Zentrum ihrer In­stallation ist ein riesiger Bildschirm wie ein Himmelsspiegel in die Horizontale gekippt; einheimische Wächter der Megalithen, Priester, Archäologen und Bauern künden von der Observation des Alls durch die Vorfahren, die es, für eine gelungene Ernte ebenso wie für ein gelungenes Leben, zu reaktivieren gilt – so entfacht die Gongtherapeutin, Yoga-Lehrerin und Wirtschaftswissenschaftlerin einen fesselnden computergenerierten Bilderstrom über das mythische Wissen vom Kosmos.

          Manche Künstler malen sich ein Post-Anthropozän aus wie Jana Kerima Stolzer und Lex Rütten, denen das ausgebeutete Ruhrgebiet als Modell dient für eine Welt, die nurmehr als Museum existiert: In ihrer Videoserie wacht eine einsame Drohne als letzte verbliebene Intelligenz über die menschenleere Mutter Erde. „Neue kosmologische Modelle fürs Überleben“ hingegen bringt Suzanne Treister in farbigen Zeichnungen aufs Papier, entwirft interplanetarische Sozialstrukturen, Weltraumhabitate, Kunstnetzwerke.

          Erstaunlich bei alldem, dass der zeitgenössische Schamanismus, zumindest in Dortmund, einen Komplex mit dringendem Heilungsbedarf brachliegen lässt: die Pandemie. Vielleicht ist es auch besser so – unser persönlicher Guru ist jetzt Minister.

          Technoschamanismus. Im Hartware Medienkunstverein, Dortmund, bis 6. März. Kein Katalog.

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