Maler Frank Auerbach neunzig : Sisyphos der Ölfarbe
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Farbsatt: Der Maler Frank Auerbach in seinem Atelier. Bild: Ullstein
1939 musste er aus Berlin fliehen und rang sich als Schmerzensmann der Malerei Bilder von unstillbarem Leiden ab: Zum neunzigsten Geburtstag von Frank Auerbach.
Wenige Künstler gibt es, bei denen sich wie bei Frank Auerbach die Frage so sehr stellt, ob die allergrößte Kunst nicht doch aus einem großen Anteil Leiden resultiert. Selbst wer die These als Passionskitsch rundweg ablehnt, kommt nicht umhin, zweierlei zuzugeben: Er ist einer der größten lebenden Maler und, nachdem sein Freund Lucian Freud gestorben ist, auch einer der größten Schmerzensmänner der Kunst.
Bis heute verbraucht der Maler mindestens fünf Liter Ölfarbe selbst für kleinste Bildformate, weil er hyperkritisch die unzähligen Schichten seiner überwiegend Porträtgemälde immer und immer wieder abkratzt und abschält. Auch bereits trocknende Bildnisse sind nicht davor gefeit, dass der Künstler mit Pinselblitzen oder dem Stiel des Malwerkzeugs (die geliebten Radierungen fertigt er mit einem Dartpfeil anstelle der Radiernadel) noch einmal hineinfährt und die Bilder dadurch optisch fast zum Zerreißen bringt.
Sein „Selbstbildnis“ aus dem Jahr 1958 ist dem klassischen Kanon der Kunstgeschichte mindestens um ein Jahrzehnt voraus: Bewusst unperfekt collagiert, zeigt es ein mit Kohle bekritzeltes Schwarzweißfoto des Künstlers, das von Schrunden, Wasserflecken und Patchworkflicken überzogen ist - selten schien der Begriff „derangiert“ für ein Porträt so treffend. Bei den Bildnissen seiner Freunde, die in quälend langen Modellsitzungen oft über Monate entstehen, ist wundersam, wie etwa bei dem „Head of William Fever“ von 2003 dennoch eine klare Vorstellung des Wesens dieses Menschen entsteht, obwohl der sich in den Rücken werfende Kopf nahezu völlig aus der Form läuft. Und nicht einmal die Porträts seines Sohnes sind vor solch brachialem, in diesem Fall beinahe schon autoaggressivem Abarbeiten am eigen Fleisch und Blut sicher, denn die Bilder sind ebenso seine Babys wie in besonderem Maße die gegen das Vergessen geschützten Bildnisse des Kindes.
Auerbach, der am 29. April 1931 in ein liberales jüdisches Elternhaus in Berlin geboren wurde, hat jedes Recht zur Aggression und ihrem Abbau im Malprozess. Jedes porträtierte Kind konnte ihn, der 1939 durch einen Kindertransport nach Großbritannien geschickt und dadurch gerettet wurde, an sein eigenes Schicksal und das der Eltern erinnern, die beide in Auschwitz ermordet wurden, insbesondere weil die Mutter, die selbst Kunst studiert hatte, ihn an diese herangeführt hat. Man muss nicht von Traumatisierung sprechen, doch kann man sich leicht vorstellen, dass für ihn jedes Malen eines lebendigen Gesichts zugleich erleichterndes Überleben und belastendes Erinnern bedeuten kann.
Verewigt ist er in allen großen Museen der Welt und war es - für kurze Zeit - auch in der Literatur: Nicht von seinem Cousin Marcel Reich-Ranicki, sondern von dem Schriftsteller W.G. Sebald, der ebenfalls in England seinen neuen Lebensmittelpunkt fand. Dieser hatte Auerbach in einem Kapitel seines 1992 erschienenen Flüchtlingsbuchs „Die Ausgewanderten“ in der deutschen Ausgabe als Max Aurach porträtiert und die englische mit Bildern des Künstlers illustriert, was diesen schmerzte. Nach einem Streit benannte Sebald die Figur in Max Ferber um. Heute wird dieser Maler des unstillbaren Leidens wie auch des nimmermüden sisyphoshaften Auf- und Abtragens von Farbmassen auf seinen Bildern neunzig Jahre alt.