Willi-Sitte-Retrospektive : Arbeit am Ich
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Sittes „Rufer II“ kam 1969 in die Sammlung der Moritzburg und dann 1971 unter ominösen Umständen in Besitz des SED-Funktionärs Horst Sindermann. Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Ein Leben wie gemalt fürs zwanzigste Jahrhundert: Das Museum Moritzburg in Halle zeigt das Werk des umstrittenen DDR-Künstlers Willi Sitte.
Willi Sittes Gemälde „Rufer II“ betreibt Etikettenschwindel. Denn „Rufer I“ gibt es nicht. Nicht mehr: Sitte übermalte es 1964 mit der neuen Fassung. Das war auch Arbeit am Ich, für die es aus der Sicht des Künstlers gute politische Gründe gab. Ästhetische waren es eher weniger.
Aber Sitte hatte erfahren müssen, was es hieß, sich mit der SED anzulegen: „Was für ein hervorragender Künstler könne Genosse Sitte sein, wenn er sich konsequent für den sozialistischen Realismus entscheiden könnte“, war aus der Feder eines hohen Funktionärs im Dezember 1962 in der Parteizeitung Neues Deutschland zu lesen gewesen – als Reaktion auf harsche Kritik, die der Maler im Kreis von Kollegen an den Kunstpraktiken in der DDR geübt hatte, was prompt der Stasi zugetragen worden war. Sitte war sogar so weit gegangen, anzudrohen, künftig nie wieder Bilder an große Ausstellungen zu geben. Im Februar 1963 sollte er aber schon kapitulieren: mit einer Selbstkritik, die zuerst in einer Tageszeitung seines Wohn- und Wirkungsorts Halle erschien und dann vom Neuen Deutschland nachgedruckt wurde. Diese Erklärung bezeichnet den entscheidenden Bruch in seinem Leben: Die Partei belohnte den zu Kreuze Gekrochenen prompt mit seiner ersten Einzelausstellung. Aber Sittes Bilder sahen fortan anders aus.
Die Wandlung eines Malers
Nicht mehr wie „Rufer I“ aus dem Streitjahr 1962, das eine in eher blassen Farben neusachlich gehaltene Figur mit Hemd, Pullunder und abgewandtem Blick gezeigt hatte, von der man hätte meinen können, dieser Mann bestellte bei seinen Kollegen auf der Baustelle gerade eine Tasse Kaffee. Für „Rufer II“ trug Sitte pastose farbintensive Malschichten auf, machte das Gesicht expressiver, proletarisierte die Figur (weit aufgeknüpftes Hemd) und zerknitterte die Tageszeitung in ihrer Hand, damit sie zu den groben Arbeiterhänden passte. Zudem wurden die im Bild collagierten Zeitungsseiten stark übermalt, denn die Collagetechnik galt als bürgerlich-formalistisches Verfahren und war in der DDR verfemt. Diese Verwandlung gelang so gut, dass das Gemälde 1971 Titelmotiv des Katalogs zur Retrospektive wurde, die ihm das Museum Moritzburg in Halle zum fünfzigsten Geburtstag ausrichtete.
Heute, fünfzig Jahre danach, richtet dasselbe Haus wieder eine Willi-Sitte-Retrospektive aus, zum hundertsten Geburtstag des 2013 gestorbenen Malers. Die Zeiten haben sich gewandelt, die DDR ist untergegangen, aber Sitte war bis zum Tod seinem Sinneswandel von 1963 treu geblieben. Noch im Sommer 1989 hatte er erklärt: „In dem Augenblick, wo die Kunst selbständig wird, sich unabhängig von Staat und Partei macht, hebt sie sich vom Leben, von den Menschen ab. Ich halte das für sehr gefährlich.“ Das sagte er nicht nur als Maler, sondern auch als Mitglied des Zentralkomitees des Politbüros der SED, also der mächtigsten Instanz der DDR. Wenige Monate später sprach er wieder ein Ausstellungsverbot für seine Werke in der DDR aus: diesmal aufgrund seiner Enttäuschung über den politischen Umbruch. Es blieb zwölf Jahre in Kraft, aber interessierte nur wenige; Sitte galt und gilt als Mann von gestern. Was sollte er uns heute noch zu sagen haben? Oder wieder?
Revisionen seines Selbstbilds durch Recherchen
Unglaublich viel. Sitte wird in der neuen Retrospektive in all seiner Ambivalenz vorgeführt. Thomas Bauer-Friedrich, Direktor der Moritzburg, und Paul Kaiser, Leiter des Instituts für Kulturstudien in Dresden, haben mit ihrem Team in fünfjähriger Recherchearbeit das hinterfragt, was sie „eine dynamisch laufende Selbsthistorisierung“ nennen, „die, wie so oft bei Willi Sitte, noch das Persönlichste mit dem Politischen verbindet“. Nun können sie Legenden revidieren wie etwa die von Sittes angeblicher Kampfzeit 1944/45 als Partisan in Italien, die ihm in der DDR den Status eines privilegierten „Verfolgten des Naziregimes“ einbrachte. Zugleich aber richten sie nicht moralisch über Sitte, sondern zeigen ihn als typischen Doppelspieler der Nachkriegszeit, der als gebürtiger Tscheche mit seiner Familie die Heimat in Nordböhmen verloren und sich als künstlerischer Autodidakt in der neu gegründeten DDR einzurichten hatte. Von Beginn an setzte er dabei auf die SED, bereits in den ersten Akten über ihn firmiert er als „Parteimaler“. Aber der junge Sitte war noch kein Parteigänger. Nur die Kunst war ihm Antidot gegen die Vergiftungen des Krieges. In der Widmung einer Zeichnung von 1948 schreibt er über ihre Wirkung: „Wie Medizin dem Körper, so ist sie der heilsamste Balsam für krankende und gesunde Seele. – Und hin und wieder Kopf hoch!“
So hielt er es zunächst tatsächlich: nicht immer, aber immer wieder im Widerstand gegen kunstideologische Zumutungen. Der Schwerpunkt der mehr als 250 Werke umfassenden Schau, für deren gelungene Gestaltung der zentrale Westflügel der Moritzburg zwei Monate lang umgebaut wurde, liegt auf dem Schaffen der Fünfziger- und Sechzigerjahre – als sich Sittes künstlerisches Schicksal entschied. Da sieht man seine Inspirationen durch Picasso, Léger, Cézanne (die gelängten Arme und riesigen Hände seiner Figuren), Käthe Kollwitz, Max Klinger, A. Paul Weber, Max Beckmann, Max Ernst – ein wilder Eklektizist ist der junge Sitte, der solche Bilder aber im Verborgenen hält und Ausstellungen mit gewünscht realistischen Gemälden beschickt. Nach 1989 versuchten seine Verehrer, den Maler mit diesen zuvor meist unbekannten, in der DDR als formalistisch verpönten Werken ästhetisch zu verteidigen, aber erst im Zusammenspiel von angepasster und unangepasster Kunst wird Willi Sitte zum Jahrhundertmaler: In seiner Schaffenszeit gab es für deutsche Künstler keine Unschuld mehr.
Die Ausstellung ist augenöffnend. Plötzlich sieht man die Ähnlichkeit von Sittes geradezu gewalttätigem Inkarnat zu dem eines Lucian Freud oder die Erbschaft, die Neo Rauch über die Liebe zum Grotesken bei ihm angetreten hat. In der knallweiß gestrichenen großen Ausstellungsbox im Obergeschoss, dem furiosen Finale, hängt ein Dutzend Monumentalbilder aus allen Schaffensphasen – teilweise in derselben Konstellation wie bei der Retrospektive von 1971 –, doch alles sieht man neu, weil man den Parcours durch Sittes Persönlichkeit und Politikverständnis hinter sich hat. Dass die Ausstellung just am Wochenende öffnet, an dem Halle die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit ausrichtet, ist ein Coup: In diesem Maler der deutschen Zwietracht spiegelt sich das Doppelspiel unserer Nation seit 1945. Man schaut und staunt und lernt. Und hin und wieder sogar Kopf hoch.
Sittes Welt. Willi Sitte – Die Retrospektive. Im Museum Moritzburg, Halle; bis zum 9. Januar 2022. Der kiloschwere ausgezeichnete Katalog (Verlag E.A. Seemann) kostet 45 Euro. Am 6. Oktober erscheint zudem Thomas Bauer-Friedrichs und Paul Kaisers aus ihren Recherchen zur Ausstellung entstandene biographische Publikation „Willi Sitte – Maler und Funktionär“ (im Museum 27 Euro, sonst 36 Euro). Und vom 10. bis zum 12. November wird in der Leopoldina Halle eine wissenschaftliche Tagung zu Sittes Leben stattfinden.