Experiment in Beton
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Während der Olympischen Spiele nutzen Sportler das kleine Schwimmbad im olympischen Dorf Bild: Picture Alliance
Erst wollte niemand hinziehen, dann waren plötzlich alle begeistert vom olympischen Dorf in München. Zum 50. Geburtstag einer Wohnutopie.
Um eine Ahnung zu bekommen, wie unerhört das olympische Dorf in München anfangs gewirkt haben muss, hilft ein Foto von 1973. Hans-Jochen Vogel, Bundesbauminister und bis vor Kurzem Münchner Oberbürgermeister, und seine Frau stehen auf dem Balkon ihrer Hochhauswohnung, ein Ausblick wie von einem Berggipfel. Liselotte Vogel sieht ernst in die Kamera, Vogel zeigt hinab: auf die Parklandschaft, die auf Kriegstrümmern entstand, auf das inzwischen ikonische Zeltdach, das Stadion, Olympiahalle und Schwimmbad umfließt. Er trägt einen schweren Anzug mit Krawatte, sie einen karierten Faltenrock, beide wirken wie hineingestellt in die strenge Betonkulisse. Optisch scheinen sie eher ins traditionelle München zu gehören als in seine kühne Erweiterung im Norden.
Tatsächlich waren die Vogels Pioniere, sie gehörten im Juni 1973, zehn Monate nach den Olympischen Spielen, die Vogel in die Stadt geholt hatte, zu den wenigen Bewohnern der neuen Siedlung. Abends ließ der Bauträger Lichter anknipsen, damit man nicht merkte, wie viele der 3200 Wohnungen leer standen. Die Münchner blickten irritiert auf die aufgetürmte Betonlandschaft aus hohen und niedrigen, zurückspringenden und gewürfelten Gebäuden, die Wohnungen verkauften sich nicht. Zeitungen und Fachpresse schrieben von einer „Geisterstadt“, einer „Un-Stadt“. Ein Haus kannte die ganze Welt, den zweistöckigen Bungalow, in dem die israelischen Olympia-Teilnehmer gewohnt hatten und den am 5. September 1972 ein palästinensisches Terrorkommando stürmte. Dass das olympische Dorf fünf Tage vor dem Ende der Spiele ein Ort des Entsetzens und der Trauer geworden war, trug vielleicht auch dazu bei, dass die Nachnutzung nur zögerlich in Gang kam.
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