100 Jahre Joseph Beuys : Der deutscheste Künstler der Deutschen
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Beuys im Jahr 1979 Bild: dpa
Das Beuys-Jahr hat begonnen, Museen planen große Ausstellungen. Nicht so einig ist man sich bei der Frage: Wofür steht Joseph Beuys, und was will man heute von Deutschlands einflussreichstem Künstler?
Im Mai 1969 reist der Schriftsteller Peter Handke nach Frankfurt. Im Theater am Turm findet eine Aufführung statt, genauer gesagt: eine Aktion. Joseph Beuys tritt auf – „er trug Blue Jeans, seinen Hut und über dem hellen Hemd eine kurze ärmellose Jacke“ –, rezitiert Texte, imitiert ein Flugzeug, im Hintergrund werden Fragmente von Shakespeares „Titus Andronicus“ und Goethes „Iphigenie auf Tauris“ verlesen, während hinter Beuys ein Schimmel auf der Bühne steht und frisst. Beuys wiederholt die Verse, tätschelt das Pferd, spuckt Margarine aus, fängt dann von vorn an, Handke ertappt sich dabei, „unwillig zu werden“, aber schon bald scheint ihm das Bild vom Pferd und dem Mann, der auf der Bühne herumgeht, „eingebrannt in das eigene Leben“.
Joseph Beuys hat viele solcher Bilder geschaffen. Dass er einer der einflussreichsten Künstler nach 1945 war, dass er auch im Ausland nach anfänglichem Unverständnis enorme Erfolge feierte – vielleicht auch, weil er mit dem arbeitete, was als deutsch-romantisch galt, mit archaischen Ritualen und Materialien, mit Fett und Filz und Theorien zu spirituellen Energieflüssen –, ist leicht belegbar. Entsprechend wohlgemut steuern die Museen ins Beuys-Jahr: Vor hundert Jahren wurde der Künstler in Krefeld geboren, zwei Dutzend Ausstellungen und Veranstaltungen widmen sich seinem Werk in den kommenden Monaten, in Wien ab dem 4. März, später auch in Berlin. Allein im Rheinland nehmen über zwanzig Institutionen am Festival „Beuys 2021“ teil.
Es ist unbestritten, dass Beuys den Kunstbegriff wie kaum ein anderer in sehr verschiedene Richtungen erweitert hat – aber da hört das, worauf Kunsthistoriker und Kuratoren sich einigen können, auch schon auf. Wer Beuys war und wofür genau man ihn jetzt feiern sollte: Dazu gibt es sehr verschiedene Ansichten, Verteidiger und Kritiker haben sich in den letzten Jahren erhebliche Schlachten geliefert, so dass es nicht schaden kann, die Suche nach dem, was heute zu Beuys zu sagen wäre, bei den Werken zu beginnen. Es gibt zum Beispiel ein Aquarell des jungen Beuys aus dem Jahr 1956, das zeigt einen Hirsch mit gesenktem Geweih. Das Tier tut etwas Seltsames: Seine Hinterbeine scheinen zu rennen, während die Vorderläufe ruhig verharren. Es ist ein zart hingetuschtes Blatt, von dem man nicht sagen kann, wann es wohl entstand. Es könnte aus dem 19. Jahrhundert stammen, oder noch viel älter sein; schon in der Steinzeit malten Menschen solche Tiere. An einigen Stellen zögerte der Pinsel, so als sei der Maler wie ein Archäologe des Anfangs vorgegangen, als habe er erforschen wollen, wie es war, als die ersten Menschen zum ersten Mal etwas darstellten; der Hirsch taucht wie aus einem vorzeitlichen Nebel auf dem Blatt auf.
Das ist der eine Beuys, den die einen so lieben und feiern wollen: ein Künstler, der einen eigenweltlichen Kosmos schuf, wie man ihn so kein zweites Mal findet – eine Art Zivilisationsgeschichte des Menschen in Symbolbildern, Planzeichnungen und rätselhaften Arrangements von Dingen, die man in einer technischen Zivilisation und ihrer Kunst so eher nicht findet: Holzschlitten, Filzdecken, Eisschollen aus Fett, Kupferstangen, die wie Empfänger ferner Botschaften oder erste Absteckungen eines neuen Terrains im Raum lehnen und vom Wunsch nach Wärme, Energie und Gemeinschaft zeugen. Dieser Beuys ist selbst vielen seiner Verehrer zu mystisch in seiner Begeisterung für Urvölker, Schamanen, keltische Symbole. Sie verkleinern das Dunkle und Mythenstrotzende zu einer bloßen Provokation, zu einer „Strategie der Kritik“ an einer rationalistischen Moderne und stürzen sich danach schnell auf den vermeintlich emanzipatorischen Beuys, der mit seinen Aktionen die Grenzen dessen, was man Plastik nennt, radikal erweiterte und von Kunst nicht mehr die Produktion von ästhetischen Objekten erwartete, sondern die Veränderung der Gesellschaft.