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59. Biennale di Venezia : Surrealismus der nächsten Generation

Palimpsest der Schichten von Geschichte: Maria Eichhorns Schnitte im Deutschen Pavillon. Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Mit einem Jahr Corona-Verspätung öffnet am Samstag eine Venedigbiennale, die beeindrucken wird. Die nagende Frage, ob man in Kriegszeiten Kunst genießen darf, beantwortet der ukrainische Präsident Selenskyj mit einem klaren: Ja.

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          Vor dem verwaisten russischen Pavillon, den ursprünglich ein litauischer Kurator hätte bespielen sollen, der sich jedoch nach Kriegsbeginn ehrenhaft verweigerte, stehen Carabinieri. Sie sollen das Beschmieren des im orthodoxen Zuckerbäckerstil errichteten Baus seitens aufgebrachter Besucher verhindern. Der ukrainische Beitrag für die Biennale in Venedig hingegen steht ebenfalls unter besonderer Beobachtung, allerdings im positiven Sinn. Halbstündlich defilieren hier Politiker aus aller Welt vorüber und bekunden mit blau-gelben Schleifen und geschliffenen Worten ihre Solidarität. Der Beitrag erfährt auch aus künstlerischer Sicht zu Recht regen Zulauf: Pavlo Makov hat mit seinem „Brunnen der Auszehrung“ ein Paradox installiert; Dutzende Bronzetrichter leiten Wasser nach unten, so wie in seiner Heimat tatsächlich zwei Flüsse zu einem Delta zusammenfließen, dabei aber nicht stärker werden, sondern ausdünnen und versanden.

          Stefan Trinks
          Redakteur im Feuilleton.

          Die nagende Frage bleibt: Darf man in Kriegszeiten Kunst genießen, oder desillusionierter noch: Vermag sie irgendetwas mit ihrer uneindeutigen Stimme auszurichten, während die Waffen sprechen, oder ist es gar barbarisch, kurz nach Butscha ein Ölgemälde zu betrachten? Den Segen des ukrainischen Präsidenten hat die Biennale jedenfalls – am Donnerstag um fünf Uhr nachmittags wandte sich Wolodymyr Selenskyj höchstpersönlich mit seiner Brandrede „Ukraine: Defending freedom“ an das Publikum der Großausstellung und verteidigte – als Künstler, der er ist – das Recht und die Pflicht zu ihrer Ausrichtung.

          Der traumvage Stil des Unterbewussten

          Keiner der beteiligten Künstler konnte voraussagen, was Apokalyptisches im Osten Europas geschehen würde, und dennoch wirkt eine Vielzahl der zu sehenden Arbeiten, als sei sie auf den Krieg hin enggeführt. Die Lingua franca der Biennale ist der Surrealismus, den Kuratorin Alemani mit dem Titel „The Milk of ­Dreams“ zwar vorgegeben hat, der aber die großenteils schon entstandenen und ausgewählten Werke nicht mehr beeinflussen konnte. Für deutsche Ohren ist die ausgerufene „Milch der Träume“, der Surrealistin Leonora Carrington entlehnt, seit Celans „schwarzer Milch der Frühe“ aber eher albtraumhaft eingetrübt.

          Und dennoch trifft der Titel präzise den traumvagen Stil des Unterbewussten, der eben nicht nur Sigmund Freud zum Schutzpatron feuchtwilder Traumbildnerei erkoren hat, sondern auch konvertierte neue Materialien für die Kunst erschließt. Auf den Kopf gestellte Materialitäten und ein permanentes Ausloten und Steigern von Sensualitäten sind die beiden Grundpfeiler der Biennale, und es beeindruckt durchgängig, wie die Künstler nun in Venedig immer neue Spielarten surrealistischer Materialverfremdung präsentieren.

          Wie schon in den letzten Biennalen gewinnen viele freche Davids im Arsenale-Teil der Schau den Kampf gegen die Goliaths mit ihren Monumentalpavillons. An sublim apokalyptischem Schauder ist die Halle der kleinen Insel Malta nicht zu überbieten. In dem völlig dunklen Saal fällt buchstäblich Feuer vom nicht zu sehenden Himmel, getreu der Apokalypse des Johannes, mit der sich die Künstler Arcangelo Sassolino und Giuseppe Schembri Bonaci lange Jahre intensiv auseinandergesetzt haben. Wie zähflüssige Lava tropft es von der Decke und fällt zischend in Becken mit schwarzem Wasser am Boden; man sieht vor dem geistigen Auge Goethe am Vesuv stehen, wie er ob des schaurig-erhabenen Anblicks einen inneren Veitstanz der Emotionen vollführt. Bei dieser flüssigen Malta-Lava handelt es sich um bei 1500 Grad verflüssigtes Eisen, das aus einem Himmel mit den Maßen von Caravaggios apokalyptischem Hauptwerk in der Kathedrale von Valletta fällt.

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