Schau im Centre Pompidou : Sachlich sein heißt deutsch sein
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Eine monumentale Ausstellung im Centre Pompidou zeigt Aufstieg und Fall einer Epoche, in der die Kunst in Deutschland den Fortschritt feierte – und mit ihm haderte.
In jeder Sprache gibt es markante Begriffe, die in ihrer Dichte und kulturellen Triftigkeit mehrere Sinnebenen transportieren. Im Wort Sachlichkeit verbinden sich ästhetische Funktionalität, Objektivität und das Nüchterne mit einer womöglich kalten Empfindungslosigkeit, mit Distanz und entseelter Rationalität. Heinrich Mann benennt damit in seinem 1914 erschienenen ironischen Roman „Der Untertan“ einen kulturellen Charakterzug: „Sachlich sein, heißt deutsch sein“, ruft seine opportunistische Hauptfigur Diederich Heßling im Roman „Der Untertan“. Hinter dem eigentlich unübersetzbaren Stilbegriff – objectivity oder objectivité fassen nur einen Teil der Bedeutung – verbirgt sich mehr als eine ästhetische Bewegung, die während der Weimarer Republik alle künstlerischen Domänen durchwirkte. „Neue Sachlichkeit“ drückt einen Zeitgeist aus, ein Lebensgefühl während eines knappen Jahrzehnts, in dem das Bauhaus enormen Einfluss gewann. Sogar in einer Berliner Komödienrevue wurde flott gesungen: „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit.“
Ein Blick auf das Antlitz der Zeit
Entsprechend umfassend ist der Anspruch der Ausstellung im Centre Pompidou mit neunhundert Exponaten: neben Malerei und Fotografie auch Film, Design, Architektur und zahlreiche Dokumente. Der zunächst ungelenk wirkende Titel bekommt gerade durch die nüchterne Reihung Aussagekraft: „Deutschland/1920er Jahre/Neue Sachlichkeit/August Sander“ analysiert eine Kunstrichtung in ihrer Wechselwirkung mit der Zeit- und Kulturgeschichte. Das Hauptwerk „Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts“ des Fotografen August Sander (1876 bis 1964), das wie in einer Vivisektion die Gesellschaft der Weimarer Republik porträtiert und in soziologische Typen kategorisiert, wird mit mehr als 230 originalen Fotografien als Ausstellung in der Ausstellung eingeflochten. Sie gibt einen eindringlichen Blick auf die einzelnen Menschen, aber indirekt auch auf das Antlitz dieser Zeit.
Schon der Expressionismus schloss mit der biederen Gemütlichkeit der Wilhelminischen Epoche radikal ab. Nach dem im Desaster endenden Ersten Weltkrieg, dem Jahre mit Spanischer Grippe und Inflation in einem aufständischen politischen Klima folgten, griff der emotionsgeladene Kunstausdruck nicht mehr, um auf die traumatischen psychischen Erfahrungen und rasanten technologischen Umwälzungen der Moderne künstlerisch zu reagieren. Ein kühler bis illusionsloser Realismus löste den Expressionismus ab und zeigt sich in der Malerei von Georges Grosz, Otto Dix, Max Beckmann, Christian Schad oder Georg Scholz.
Der junge Kurator Gustav Friedrich Hartlaub – und damit beginnt die Ausstellung im Centre Pompidou – stellte 1925 in einer Schau in der Mannheimer Kunsthalle zweiundfünfzig Künstler zusammen, deren Malerei eine neu aufgekommene realistische Figuration zum Ausdruck brachte. Hartlaub gab ihr den Titel „Neue Sachlichkeit“ und traf ins Schwarze: Er benannte einen Stil und zugleich das Empfinden seiner Zeit.
Die Konservatorin der modernen Sammlung des Centre Pompidou, Angela Lampe, hatte das Projekt dieser Ausstellung schon vor zehn Jahren ins Auge gefasst. Florian Ebner als Leiter der Fotografieabteilung fügte die Idee einer Verbindung mit August Sander hinzu. Die monographische Sander-Ausstellung schiebt sich nun grau abgesetzt in zwei Diagonalen in die Übersichtsschau zur Sachlichkeit. Durchgänge lassen Blickachsen entstehen und ermöglichen es, vom Parcours durch acht thematische Bereiche immer wieder in die Sander-Räume überzugehen. So entsteht ein Dialog zwischen Sanders frontalen Porträts der deutschen Gesellschaft, die er in seiner Typologie in soziale Gruppen einzufassen sucht (der Bauer, die Frau, die Stände, die Künstler, die Großstadt), und der Sachlichkeitsbewegung dieses knappen Jahrzehnts zwischen 1925 und 1933.