Ausstellung „Walk!" : Untergehen, Weitergehen
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Ein Wanderstab als Mischung aus Traumfänger mit Federn und Ventilatoren aus transparentem Plastik: Minouk Lim schultert im Video seinen „Portable Keeper“ und zieht los durch unwirtliches Terrain. Bild: Minouk Lim
Silly walks gibt es hier nicht! Nie war die Promenadologie so unhintergehbar wie heute. Die Frankfurter Schirn untersucht, was jüngere Künstler am politischen Flanieren interessiert.
Wohl nie zuvor wurden in der Menschheitsgeschichte mehr Laufkilometer absolviert als in den vergangenen zwei Jahren, um sich aus der Isolation von Lockdown und Homeoffice freizulaufen – oder Unmassen an Dingen auszuliefern.
Obwohl „Walk!“ in der Frankfurter Schirn bereits vor der Pandemie geplant und eines der vielen Opfer von Verschiebungen wurde, widmet sie sich seit diesem Wochenende dem Gehen in der überwiegend jüngsten zeitgenössischen Kunst. Eine Passage windet sich in sechs Kapiteln durch den Raumschlauch mit rund hundert Werken von vier Kontinenten und über vierzig Künstlern, in deren Schaffen die Fortbewegung zu Fuß und ihre fast immer politischen Implikationen und Bezug auf Globalisierung, Geschlecht, Migration und Klimawandel wesentlichen Anteil haben.
Als Hintergrund des Ganzen gibt es ernsthafte wissenschaftliche Forschungen. Die „Promenadologie“, im Englischen sprechend „Strollology“ genannt, ist eine von dem Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt 1976 an der Kasseler Universität entwickelte kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode (seine Frau war Künstlerin und einer seiner vielen gelehrten Vorfahren der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt). Seine Spaziergangswissenschaft zielt darauf, die Bedingungen unserer Umweltwahrnehmung bewusster zu machen und auf die je nach Kulturkreis sehr unterschiedliche gesellschaftliche Relevanz hin zu untersuchen. Burckhardt stand den Grünen nahe und obgleich schon die Land Art der Sechziger in langen Streifzügen durch die Natur das soziale Verhältnis des Menschen zur von ihm geschaffenen Landschaft immer neu zu fassen versuchte, beginnt die intensive Beschäftigung mit dem Gehen in urbanen wie politisierten Räumen massiv erst in den Neunzigern.
Wie also weiland Seume von Dresden nach Syrakus lief, machten sich damals gleich mehrere Künstler unabhängig voneinander auf den Weg und waren dann mal weg, oft für Monate und Jahre. Und wie im Mittelalter oftmals Adelige ihre Sünden „büßten“, indem sie Stellvertreter auf lange Pilgerschaften nach Santiago de Compostela sandten, unternehmen heute gewissermaßen Künstler strapaziöse Reisen für sich und die Gesellschaft. Von solchen Stellvertreter-Bußfahrten zeugt in der Schau etwa die Arbeit „Füße“ des 1988 geborenen Jan Hostettler, der über dreitausend Kilometer von Winter bis Sommer per pedes lief und seine sich dabei auch anatomisch verändernden Füße hernach in Blei abgoss.
Geistiger Vater ambulatorischer Entschleunigung
Der eine Großmeister eines Menschsein-konstituierenden „ambulo ergo sum“, Bruce Nauman, dem mit seinen Werken zum Gehen soeben eine Ausstellung in Venedig gewidmet war, wird in „Walk!“ zwar ausgespart. Der andere Altmeister des artistischen Wanderns, der britische Konzeptkünstler Hamish Fulton, der sich selbst einen „Walking Artist“ nennt, ist dafür umso stärker präsent, unter anderem mit seinem persönlichen Pilger-Atlas „35 Walks Map. Europe. 1971-2019“. In fünfunddreißig „Wallfahrten“ durchmaß Fulton nicht nur seine Heimatinsel, vielmehr ganz Europa von Küste zu Küste und folgte dabei wie einst vor allem Flussläufen, die wie die Donau den Kontinent ungeachtet politischer und nationaler Grenzen als blaue Bänder auch schon zu Zeiten des Eisernen Vorhangs verknüpften.
Fulton darf mit seiner „Walking Art“ als geistiger Vater ambulatorischer Entschleunigung gelten. Einer seiner würdigsten Nachfolger ist Daniel Beerstecher, der etwa in der Serie „Walk in Time“ von 2019 seine Bewegungen derart zeitlupenhaft verlangsamt, dass er für den Marathon die quälend gedehnte Ewigkeit von sechzig Tagen benötigt. Im Innern seiner Wohnung wiederum ging er im Lockdown stundenlang wie ein hospitalistisches Kind im Viereck und aus all diesen GPS-Daten sowie seinen intimen Atem- und Herzfrequenzen bei diesem Schneckenrennen entstehen bunte Diagramme in Spiralform. Die hinter der allfällig propagierten Gesundheits-Selbstoptimierung versteckte digitale Überwachung wirkt auf diesen Selbstporträt-Diagrammen plötzlich erschreckend ungesund.