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Wenn Natur politisch wird : Die Macht des Wildbachs

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Die Kunsthalle Baden-Baden zeigt, wie Kunst zum tosenden Gewässer wird. Bild: Cengiz Tekin

Gespaltenes Verhältnis zur Mutter Natur: Baden-Baden zeigt, was alte Landschaftsbilder mit Naturkatastrophen, Amazon-Drohnen und der Restitutionsdebatte verbindet. Aus tosenden Gewässern wird Kunst.

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          Bereits im Oktober 2020 stieg die israelische Multimedia-Künstlerin Yael Bartana aufs Dach der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, um den Schofar, ein Musikinstrument, das in jüdischer Tradition ausschließlich am Yom Kippur Verwendung findet, für die Performance „Days of Awe“ über der Parkidylle erklingen zu lassen. Eine Kostprobe der rituellen Tonfolge bekommt man nun endlich nach coronabedingter Schließung gleich am Eingang der Gruppenschau „State and Nature“ geboten. Vorher muss man allerdings den Kurgarten passieren, wo die Stadt mit Jeppe Heins launischen Wasserfontänen und semifunktionalen Bänken für Verwirrung sorgt. Gehören diese temporären Interventionen etwa zum Umgebungsprogramm der Kunsthalle in der nicht weniger repräsentativen Lichtentaler Allee, dem U-Bahn-Hinweis im Baumgestrüpp oder dem in der Oos befestigten Mikrofon, das die Flussgeräusche ins Museum transferiert?

          Wer diese Kollision der konkurrierenden Außenkonzepte hinter sich lässt, findet beim Flanieren durch die Säle des ersten Stocks eine Fülle an postkolonialen Interdependenzen vor, flankiert von Ausflügen in die Spannungsräume zwischen bedrohter Natur und dem staatlichen Machtanspruch über das jeweilige Territorium. Dieser kann bekanntlich je nach Wirtschaftssystem fatale Folgen für Tiere, Fauna und Flora haben. Das neue Direk­torenduo Çağla Ilk und Misal Adnan Yildiz versucht nun in seiner Premiere herauszufinden, wie ein Staat agieren müsste, um die Unversehrtheit von Ökosystemen nicht zu gefährden. Den Ausstellungstitel haben die beiden dem poetischen Werk „Devlet ve Tabiat“ (State and Nature) von Ece Ayhan entnommen, der den Staat nicht als ordnende Kraft ansah.

          Eher als eine willkürliche Gewaltquelle, der sich Menschen unterordnen müssen. Natur bekommt in diesem Weltbild die utopische Position der verlorenen Vernunft zugewiesen, weswegen man gleich im großen Oberlichtsaal einem Baum begegnet, der die Aura eines futuristischen Tempels versprüht. Die Iranerin Neda Saeedi hat dieses Natur-Simulacrum aus Metall, Plexiglas und Zweigen erschaffen. Die Blätter des Herbariums entstammen der Lichtentaler Allee, für die im neunzehnten Jahrhundert Baumsorten aus der ganzen Welt importiert wurden – eine Wechselwirkung von Staat und Natur offenbar ganz nach dem Geschmack des Direktorenduos, das „Two Shades of Green“ (2021) monumental bis unter die Decke wachsen lässt.

          Seltsam mutet da nur an, dass das Arrangement von Glaskugeln umrahmt wird, in denen Figuren aus Computerspielen den Bogen zu digitalen Spielwelten spannen. Geformt sind sie mit Hilfe eines 3D-Druckers aus grünem Kunststoff, so viel „Natürlichkeit“ muss sein. Wie diese noch im neunzehnten Jahrhundert zelebriert wurde, demonstrieren als Fremdkörper aus der hauseigenen Sammlung eingeschleuste naturalistische Landschaften des Düsseldorfer Malers Andreas Achenbach. Schon ein Werktitel wie „Nordischer Wildbach“ (1852) lässt keinen Zweifel daran, dass aus der Perspektive der damaligen Zeit die Natur für den Menschen eine Gefahr darstellte, die Dramen und Katastrophen zwangsläufig nach sich zog. Die Verletzlichkeit dieser verhängnisvollen Kraft ist wiederum das Thema der aus der Türkei stammenden Wahl-Berlinerin Mehtap Baydu.

          Sie verknüpft sie in der mythischen Fabelgestalt der „Sahmaran“ (2021), halb Frau, halb Schlange, mit der misogynen Politik und den naturzerstörerischen Großprojekten der türkischen Regierung. Der Sieg ist dieser widerständigen Chimäre gewiss, denn ihre Schuppen, von Baydu zu einer prächtigen Stoffcollage vernäht, erstrahlen in theatralischer Ausleuchtung und sorgen für einen gewaltigen Kontrast zu dem weniger sinnlichem Ansatz gegenüber. Drei Schamanen der Wirraritari, einer indigenen Gruppe aus Mexiko, sitzen in Schutzanzügen an einem großen Tisch im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. Vor ihnen liegen Ritualgegenstände, die sie bestürzt hin- und herschieben. Etwas scheint nicht zu stimmen. Und tatsächlich, 1942 hatten Mitarbeiter des Museums die Artefakte mit Arsen behandelt. So überlebte die Sammlung der „Huichol“, so der zugewiesene Name, den Insektenbefall und die Bombardierungen.

          Mit Hase: Yael Bartana
          Mit Hase: Yael Bartana : Bild: Yael Bartana

          Als einer der hochbetagten Schamanen einen Behälter aus seiner Kindheit wiedererkennt, ermöglichen seine Erinnerungen die Einordnung der Gegenstände in Handlungen und Mythen, die sich den Ethnologen nie erschlossen hatten. Die Begegnung der Eigentümer und der Besitzer fand 2005 statt. Sie scheint einen Mehrwert an Wissen geschaffen zu haben. Das gilt nur bedingt für die in Dunkelheit getauchte Installation von Gabriel Rossell Santillán. Der 1977 in Mexiko-Stadt geborene Wahl-Berliner spinnt die Geschichte auf einem zweiten Monitor weiter – leider glaubt er dabei wesentliche Informationen und Kontexte vorenthalten zu müssen. Im Mittelpunkt stehen hier die Aktivitäten des Künstlers bei der Herstellung eines tragbaren Archivs, das den heutigen Bewohnern der Sierra Madre helfen sollte, ihre Kultur zu bewahren.

          Statt dieses Projekt zu realisieren, entschied sich die Gemeinde aber lieber für den Bau eines Hirschgeheges. Und so wird man mit Aufnahmen der Tiere konfrontiert, die zum Spiegel eines naturnahen Wesens der Indigenen erklärt werden, während der mexikanische Staat, der in dem Gebiet Schulen eingerichtet habe, die Menschen „voneinander entferne“, so Santillán in einem dazugehörigen Text. Zurück zur Natur als Lösung gegen die ­Bildungsübergriffe des Staates? Wer dieser späthippiesken Deutung nicht folgen mag, wendet sich lieber Simon Denny und seinem komplexen Blick auf die überfordernde Gegenwart zu. Eine Patentzeichnung einer Amazon-Lieferdrohne reicht dem in Berlin lebenden Neuseeländer aus, um eine monströse Tech-Installation zu erschaffen – und die Verflechtungen zwischen Datenkapitalismus und Rohstoffgewinnung im tropischen Regenwald mit akribischer Detailverliebtheit ins Bewusstsein zu rücken.

          Das gilt auch für das neueste Video „The Longing Gaze“ der Polin Agnieszka Polska. Die so feinsinnige wie depressive Reflexion über die vergangenen Lockdowns lässt eine Erzählerin in einem intimen Monolog über ihre körperlichen und seelischen Veränderungen sprechen, während Aufnahmen von Überwachungskameras den verwaisten öffentlichen Raum ins Visier nehmen. Weil sie durch sich häufende Datenfehler verfremdet werden, mutieren die Realitätsschnipsel allmählich zu einem verpixelten Gemälde der inneren wie äußeren Verwüstung, nicht ohne die Paradoxie, dass genau diese neuen Kommunikationsgeräte über Monate so etwas wie Nähe und Kontakt überhaupt garantieren konnten. Die Aporien zwischen Natur und der fortschreitenden digitalen Moderne werden zwar in diesem nachdenklichen Fluss unterschiedlichster Stimmen nicht neu erfunden, aber die analytische Kraftanstrengung, mit der die Kunst nicht den Anschluss an den Patienten Gegenwart verpassen will, ist in einigen Fällen gleichwohl beeindruckend.

          State and Nature. In der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden; bis zum 31. Oktober. Zum Ende der Ausstellung soll ein Katalog erscheinen.

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