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Architektur aus Bangladesch : Ein Fernrohr in die nahe Zukunft

Effekte von Licht und Schatten: Tabassums Baitur-Rauf-Jame-Moschee ist Schule, Spielplatz und kollektives Wohnzimmer für ein heruntergekommenes Viertel in Dhaka. Bild: Sandro di Carlo Darsa

Im Westen hat man wenig Ahnung von dem, was jenseits der Industrienationen alles Aufregendes gebaut wird. Das ändert die Schau der Architektin Marina Tabassum in München.

          3 Min.

          Wir wissen zu wenig. Selbst wenn man Architekten fragt, die sehr weit herumgekommen sind, können die meisten einem keine zwei Namen von wichtigen Architekten aus Ghana oder Bangladesch nennen. In anderen Disziplinen ist das nicht besser, zum Beispiel in der Literatur, und deswegen ist es ein glücklicher Zufall, dass die schottisch-ghanaische Architektin Lesley Lokko nicht nur Leiterin der im Mai eröffnenden diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ist, sondern auch die Verfasserin mehrerer gefeierter Bestseller. Sie schreibt neben ihrer Tätigkeit als Architektin romantische Romane.

          Niklas Maak
          Redakteur im Feuilleton.

          Den Kulturraum zwischen Afrika und den Anrainern des Indischen Ozeans will die Ausstellung „Indigo Waves – Navigating the Afrasian Sea“ im Berliner Gropiusbau erkunden, die in zwei Wochen eröffnet. Was am Golf von Bengalen, am nördlichen Rand des Indischen Ozeans, gerade gebaut wird, welche Lösungen man dort für das Bauen in Zeiten von Klimakrise und wachsenden sozialen Konflikten findet, das kann man jetzt in München sehen. Das dortige Architekturmuseum zeigt das Werk der 1968 in Dhaka geborenen Architektin Marina Tabassum, die unter anderem bekannt wurde mit ihren Entwürfen von Häusern für das Überschwemmungsgebiet des Gangesdeltas, von denen jedes nur 2000 Euro kosten darf.

          Ein Apartment in Lebensgröße im Museum

          Bangladesch zählt mit fast 1100 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Flächenstaaten der Welt. Ein großer Teil des Landes ist dazu noch sehr flach. Wenn der Meeresspiegel über einen Meter ansteigt, würden gut ein Fünftel des Landes überflutet und mehr als 30 Millionen Menschen obdachlos werden. Schon heute kommt es häufig zu Überflutungen, Ernten fallen aus, die Landbevölkerung sucht in überfüllten Städten wie Dhaka Zuflucht, was dort die Konflikte noch verschärft. Dazu kommen seit 2017 mehr als eine Million Flüchtlinge aus Myanmar.

          Khudi Bari: ein Pfahlhaus, dessen aufgeständerte Wohn- und Schlafebenen Schutz vor Überflutungen bieten.
          Khudi Bari: ein Pfahlhaus, dessen aufgeständerte Wohn- und Schlafebenen Schutz vor Überflutungen bieten. : Bild: Citysyntax

          Als Reaktion auf diesen Zustrom hat Tabassum Infrastrukturbauten entworfen, die leicht und schnell aufgebaut werden können – zum Beispiel zweigeschossige Sammelzentren aus Bambus, in denen unten ein Markt stattfinden und oben gearbeitet werden kann. Ebenfalls aus dem lokalen Baumaterial Bambus werden seit 2020 Tabassums Khudi Bari gebaut – modulare Pfahlhäuser, deren aufgeständerte Wohn- und Schlafebenen sich im ersten Stock befinden und so Schutz vor Überflutungen bieten. Sie dürften bald in allen Küstenregionen der Welt benötigt werden.

          Schön und außergewöhnlich an dieser von Simone Bader kuratierten Ausstellung ist es, dass sie Tabassums Häuser und Wohnungen teilweise in Originalgröße zeigt; in ein nachgebautes Apartment kann man hineingehen und die Raum- und Materialwirkung erleben, ein Khudi Bari steht in Lebensgröße im Museum. Draußen vor dem Museum kann man eines der Vorbilder für Tabassums schnell auf- und abbaubare Architektur betreten. Für die Ausstellung wurde auf dem lokalen Markt in Dohar ein typisches vernakuläres bengalisches Fertighaus gekauft, das aus einem Holzrahmen und Wellblech besteht und jetzt in München unter den monumentalen Betonstelen der Pinakothek der Moderne steht wie ein Kind, das sich im großen Zementwald der westlichen Industriemoderne verlaufen hat. Wird das Gelände eines Dorfes von den Wassermassen zerstört, bauen die Bewohner diese Fertighäuser einfach ab und anderswo wieder auf. So wandern ganze Dörfer an immer neue Stellen.

          Die aus Bangladesch stammende Architektin Marina Tabassum.
          Die aus Bangladesch stammende Architektin Marina Tabassum. : Bild: GSAPPstudent (CC-BY-SA-4.0)

          Was man aber auch lernt in München, ist, dass Architektur am Golf von Bengalen nicht nur Armutsverwaltung ist. Bangladesch ist auch ein Beispiel für den Fortschritt einer globalen Moderne. Starb noch 1960 fast ein Drittel aller Kinder, bevor sie fünf Jahre alt wurden, sind es heute noch gut dreißig von tausend; seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der unterernährten Menschen halbiert, das Land ist auf dem Weg zu einem „Middle Income Country“.

          Auch für den neuen Mittelstand baut Tabassum, etwa den AR Tower, ein acht Etagen hohes Bürohaus mit Lamellen, die Schatten spenden und die Hitze ohne Klimaanlage vom Haus fernhalten sollen. Die Backsteine der Bauten stammen aus jahrhundertealten Häusern, die abgerissen wurden, dieses Recycling verringert nicht nur den ökologischen Fußabdruck der Neubauten, sondern gibt der Fassade zusammen mit dem schalungsrauen Beton eine lebendige Oberfläche und Patina. Ebenfalls in Dhaka entstand Tabassums Hamidur Rahman Community Center, drei monolithische Backsteinkuben mit Bücherei und Konferenzräumen, die als Treffpunkt und Bildungsort für ein benachteiligtes Viertel dienen sollen.

          Tabassum, die aus einer wohlhabenden Familie stammt, hat – unter anderem im Auftrag ihrer Großmutter – einige Moscheen gebaut, die sich von der klassischen Moschee-Ikonographie lösen und stattdessen die Effekte von Licht und Schatten in Szene setzen. Ihre Baitur-Rauf-Jame-Moschee ist auch eine Schule, ein Spielplatz und ein kollektives Wohnzimmer für ein heruntergekommenes Viertel an der Peripherie von Dhaka. Aber welche Rolle spielen solche als öffentliche Plätze dienenden Moscheebauten in einer Gesellschaft, die über religiöse Fragen tief gespalten ist? Sind sie Räume, in denen sich muslimische und säkulare Bewohner treffen können – oder weiten sie die Macht des Islams in den Alltag aus?

          All diese Fragen stellen sich in München, und auch das ist interessant an dieser Ausstellung: Dass sie nicht nur von Architektur handelt, sondern von den großen ökologischen, ökonomischen und religiösen Konflikten der Gegenwart. Die Münchner Schau ist so etwas wie ein Fernrohr, in dem die Probleme des Planeten in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft sichtbar werden. Aber zum Glück auch ein paar ziemlich gute Lösungen.

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