Anselm Kiefer : Künstler in Halbtrauer
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Echte Menschen und allegorische Kühe als Bedeutungsträger: Was verrät Anselm Kiefers Ausstellung in der Potsdamer Villa Schöningen über die deutsche Kunst?
Wer ein Bild betrachtet, sieht automatisch andere Bilder mit: Das ist auch in dieser Ausstellung so. Gezeigt wird Anselm Kiefers Werkzyklus „Europa“, der verschiedene Bilder von Kühen versammelt - und man kann kaum eine gemalte Kuh betrachten, ohne an die berühmten Tiergemälde von Jean-François Millet zu denken. Millet begann seine künstlerische Karriere mit mythologischen Szenen; 1847 wurde er für seinen „Ödipus“ gefeiert, dann aber kam es zu einem Bruch in seinem Werk: Er verließ das Feld des Mythos und der Allegorie und begann, die bäuerliche Arbeitswelt seiner Zeit zu malen, malte mit großer Hingabe Bauern und ihre Kühe - und diese Bilder waren kein bukolisches Idyll.
Sie zeigen das symbiotische Verhältnis von Mensch und Tier, die Härte des bäuerlichen Lebens, die Sorge der Bäuerin um die Kuh, die sie ernährt. Manche der Tiere wirken dürr und stehen fragil auf abgenagten Wiesen; der Tod ist in diese Bilder als Möglichkeit eingeschrieben. Viele von Millets Bildern wirken wie Schnappschüsse eines besonderen, einzigartigen Moments - und wenn man seine künstlerische Biographie als Entwicklungsgeschichte beschreiben müsste, dann wäre es eine, die von der Allegorie zum Konkreten, vom Zeitlosen in die Gesellschaft der Gegenwart, vom Mythos zum Bild des Moments führt.
Reales Gestrüpp und Stroh
Kiefers Kühe sind das genaue Gegenteil. Die neuen Werke des 1945 in Donaueschingen geborenen, seit einigen Jahren in Paris lebenden Künstlers sind Zwitter aus Gemälden und Vitrinen: Massive Glaskästen rahmen die gemalten Tiere, vor denen reales Gestrüpp und Stroh über die Leinwand quellen. Es sind keine normalen Kühe, die man da sieht: Viele Leinwände haben in der Bauchgegend der gemalten Kühe Löcher und Schnitte im Leib, ganz so, als hätte Lucio Fontana sie mit der Kreissäge aus Arno Schmidts phantastischer Erzählung „Kühe in Halbtrauer“ hineingefräst.
Durch diese Löcher schaut man ins Stroh oder einen gemalten Sternenhimmel, es wird schnell klar, dass die Kieferschen Kühe nicht bloß irgendwelche Paarhufer sein wollen, obwohl sie dafür, dass sie in einem Kiefer-Werk auftreten, erstaunlich hell und gemütlich aussehen. Aber: „Kühe haben ja eine Bedeutung“, mahnt der Künstler in einem Interview.
Wo man Därme vermutet, blinkt der Kosmos
Nur welche? Für Altphilologen sind Kiefers Gemälde eine phantastische Gelegenheit, in die Vollen ihres Bildungschatzes zu greifen: dass die wiederkäuende Kuh für das Bewahrende wie das Metabolische gleichermaßen stehe, dass in Ägypten der Himmel als nahrungsspendende Kuh vorgestellt wurde, die mit vier Beinen auf der Erde stehe, was die Kiefersche Verbindung von All und Kuh erklären könnt - und stammt das Wort „Italien“ nicht von „Vituli“ her, dem Wort für „Jungstiere“? Populärmusikhistorisch veranlagte Menschen können die Bilder aber auch ganz anders lesen: Das All und die Kuh - ist das keine Anspielung auf Pink Floyds berühmtes Album „Atom Heart Mother“ (das Cover zeigt eine Kuh) und „The Dark Side of the Moon“? So schafft jeder Interpret in seiner Auslegung von Kunst immer und vor allem ein Porträt seiner selbst.
Kiefer gab zu Protokoll, er habe an zwei mythologische Figuren gedacht, als er die Bilder malte, an Europa und an Pasiphaë - die von Poseidon mit einem Liebesfluch belegt wurde, weswegen sie in das hölzerne Gestell einer Kuh zu schlüpfen hatte, um sich mit einem Stier zu vereinigen. Außerdem sei, so Kiefer, „die Kuh prädestiniert, den Kosmos darzustellen“, denn sie metabolisiere die Pflanzen, „sie nimmt sie in sich auf“. Die Kuh sei „nur ein Durchgang“ - also weniger Kuh als Bedeutungsträger. Wo der malerische Realist Därme vermutet, blinkt bei ihm der Kosmos, wo sich bei Millets Kuh der Magen wölbt, gähnt bei Kiefer ein Loch und dahinter das kalte All.