Künstler Ai Weiwei : Ich bin Aylan Kurdi
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„Ich bin Aylan Kurdi“, lautet die Solidaritätsbekundung von Ai Weiwei. Die Geste mag hilflos sein, zynisch ist sie nicht. Bild: AP
Der chinesische Künstler Ai Weiwei erklärt sich solidarisch mit Flüchtlingen. Er stellte ein Foto nach, das um die Welt ging: die am Strand von Bodrum angespülte Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi. Kritiker werfen ihm Opportunismus und Zynismus vor.
Hat der Künstler Ai Weiwei das Flüchtlingselend für seine Zwecke instrumentalisiert, als er sich selbst am Strand der griechischen Insel Lesbos aufnehmen ließ, eben in der Haltung, in der die Wellen den Leichnam des drei Jahre alten Aylan Kurdi zurückließen? Aylan ertrank Anfang September 2015 im Mittelmeer, wie auch sein Bruder und seine Mutter, die tot an den Strand in der Nähe der türkischen Stadt Bodrum angespült wurden. Das Bild des toten Jungen kursierte im Netz, Zeitungen weltweit druckten es auf den Titelseiten. Es löste eine Debatte über die Frage aus, ob es zu grausam sei, um es zu zeigen.
Die Aufnahme zeitigte aber auch Folgen, als etwa der britische Premierminister David Cameron ankündigte, mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen zu wollen. Eben weil Schreckensbilder diese Wirkung haben können, hat schon Susan Sontag ihren Einsatz gegen den Vorwurf des Voyeurismus verteidigt. In ihrem 2003 erschienenen Buch „Das Leiden anderer betrachten“ schrieb sie: „Das Bild sagt: Setz dem ein Ende, interveniere, handle. Und dies ist die entscheidende, die korrekte Reaktion.“
Künstleraktivismus führt selten zum Erfolg
Ai Weiwei hat nun den toten Körper des Jungen durch seinen eigenen ersetzt, einen lebenden also, einen weltberühmten noch dazu. Das Bild entstand bei einem Fotoshooting der Zeitung „India Today“ und war - gerahmt mit Passepartout - am Stand der Zeitung auf der India Art Fair in Neu-Delhi ausgestellt. Geplant war, die Fotografie zusammen mit einem Interview zu veröffentlichen, das die Zeitung mit Ai geführt hatte. Dem sind die Messeberichte nun zuvorgekommen. Eine der ersten Stellungnahmen musste Sandy Angus abgeben, einer der Leiter der India Art Fair, der die Fotografie als „bewegend“ bezeichnete. Die Kommentare, die im Netz folgten, sind weniger freundlich. „Opportunistisch“, „ein Skandal“, „plakativ“ oder „zur Hölle mit Ai Weiwei“ ist auf Facebook oder Twitter zu lesen. Die ersten Verballhornungen kursieren bereits im Netz, „Stop whaling“ steht in roter Schrift etwa in einer der Persiflagen. Die Unterstellung, mit scheinbar politischen Aussagen sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken zu wollen, wird von Kritikern nicht zum ersten Mal formuliert. Postwendend kommt der Vorwurf auch jetzt, verlässlich wie ein Bumerang, wie fast zu jeder Aktion des chinesischen Künstlers.
Aber kann das stimmen? Wer die Kunstgeschichte kennt, weiß, dass Künstleraktivismus fast nie zum Erfolg geführt hat. Im Gegenteil. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen der Karriereknick auf das politische Engagement folgte. Nur ein Beispiel aus der jüngeren Zeit: Als der kolumbianische Künstler Fernando Botero, der bis dahin für die Darstellung dicker Katzen und Menschen beklatscht worden war, im Jahr 2004 plötzlich anfing, Folterszenen aus Abu Ghraib in Öl auf Leinwand zu malen, fand sich in den Vereinigten Staaten nur eine Institution, die sich bereit erklärte, die Bilder auszustellen, das Center for Latin American Studies an der University of California. Gleichgültig also, ob man die Bilder für gute Kunst hält oder nicht: Zu behaupten, Botero habe sich damit Freunde in der Kunstwelt gemacht, wäre falsch.
Ai Weiwei kennt den Kunstbetrieb besser als seine Kritiker
Künstlerkarrieren werden heute mit Rekordpreismeldungen gemacht und mit Werken von dekorativer Untröstlichkeit, die den Abgrund des Menschlichen beklagen, ohne Täter und Opfer zu benennen. Ai Weiwei, der die Kunstwelt besser kennt als die meisten seiner Kritiker, hat diese Fotografie wohl kaum deshalb anfertigen lassen, weil er glaubt, dass sie ihm nutzt. Sondern trotzdem - denn er weiß, dass sie ihm vermutlich schadet. Sein Engagement ist nicht neu. Auf Lesbos will er ein Denkmal für die ertrunkenen Flüchtlinge errichten; in Kopenhagen ließ er in der vergangenen Woche eine Schau schließen, um gegen die Verschärfung des dänischen Asylrechts zu protestieren.
Die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ veröffentlichte kürzlich einen Cartoon, in dem gefragt wurde, was aus Aylan Kurdi geworden wäre, wenn er groß geworden wäre. Die Antwort lautete, „ein Hinterngrapscher in Deutschland“. Hässlicher lässt sich die Wende in der Flüchtlingsdebatte nach den Kölner Ereignissen nicht zusammenfassen.
Die Fotografie von Ai erhebt nicht den Anspruch, Kunst zu sein. Die Mimikry an die Vorlage will nicht Ähnlichkeit vortäuschen, sie ist nur Mittel zum Zweck, um die Erinnerung an das andere Bild wachzurufen. Um das zu erreichen, hat Ai sich selbst ablichten lassen, den Weltstar, den berühmtesten Chinesen. Denn anders als die vielen Leichname ertrunkener Flüchtlinge ist Ais massiger Körper tatsächlich eine der höchsten Litfasssäulen der Medienöffentlichkeit. Was dort plakatiert wird, sehen alle. „Je suis Charlie“, lautete der Slogan in den Straßen von Paris, mit dem sich die Bürger der Stadt mit den ermordeten Karikaturisten der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ solidarisierten. „Ich bin Aylan Kurdi“, lautet die Solidaritätsbekundung von Ai Weiwei. Die Geste mag hilflos sein. Zynisch ist sie nicht.