Kolonialgeschichte : Der andere 8. Mai 1945
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Das Vorspiel zum Unabhängigkeitskrieg in Algerien begann bereits 1945 mit den Massakern in Sétif. (Foto vom 11. 12. 1960) Bild: dapd
Das Gedenken an Großereignisse blendet alles Gleichzeitige aus. So ist es auch dem arabischen Frühling widerfahren, der vor siebzig Jahren in Algerien ein gewaltsames Ende fand.
Wer in der ostalgerischen Stadt Sétif dem Flugzeug entsteigt, erblickt über der Ankunftshalle das Datum des 8. Mai 1945, nach dem der Flughafen benannt ist. Aber begeht Algerien nicht andere Nationalfeiertage, etwa den 1. November 1954, als der Unabhängigkeitskrieg gegen die französische Kolonialmacht begann? Dessen Vorspiel aber fand 1945 in Sétif vor schneebedeckten Atlasbergen statt, und es endete am „anderen 8. Mai“. Der siebzigste Jahrestag steht hier nicht für das Ende des Zweiten Weltkriegs mit der in Reims und Karlshorst besiegelten Kapitulation des Deutschen Reiches, sondern für einen neuen Waffengang an der südlichen Peripherie Europas. Nicht Befreiung wird hier gedacht, sondern eines grausamen Massakers, dem eine nie genau festgestellte Zahl von Algeriern zum Opfer fiel. Schätzungen belaufen sich auf bis zu 30.000 Tote.
Der Gedenkstein für Saâl Bouzid, das erste algerische Opfer in Sétif, macht die globalgeschichtliche Bedeutung des Mai 1945 sinnfällig. Damals bekamen die Kolonialvölker von Rabat bis Hanoi demonstriert, dass ihre Mitwirkung an der Niederringung Deutschlands und Japans keinen Lohn finden würde. Im Gegenteil: Wer wie der sechsundzwanzigjährige Hilfsarbeiter Bouzid die nationale Unabhängigkeit für Algerien reklamierte, wurde durch eine Polizeikugel niedergestreckt.
Uneingelöste Versprechen
Lange blieben die Geschehnisse in Sétif, Guelma und weiteren algerischen Städten im Dunkeln. Zeitungen und Wochenschauen hüllten sich in Schweigen, 1947 wurde die zählebige Legende in die Welt gesetzt, mordlustige Araber hätten unschuldige europäische Siedler gelyncht. Gewiss, mehr als hundert europäische Tote und viele Verletzte wurden auch gezählt, darunter einige „arabisants“, die von Kultur und Eigenart der Araber und Berber fasziniert waren und ein friedliches Miteinander anstrebten. An den Tatorten boten sich entsetzliche Bilder von erdolchten Europäern mit abgeschnittenen Brüsten und Genitalien.
Hintergrund des Geschehens war die nach der Abdankung des Vichy-Regimes energischere Agitation der Gefolgschaft von Messali Hadj, dem charismatischen Anführer der Partei des Algerischen Volkes (PPA). Die 1937 gegründete Partei erhielt Zulauf durch den verbreiteten Hunger und die Trauer über Ehemänner, Väter und Brüder, die als Angehörige arabischer Hilfstruppen auf den Schlachtfeldern in Europa gefallen waren, aber auch durch uneingelöste Versprechen, das Kolonialstatut zu reformieren. Als die Deutschen niedergerungen waren, wollte die französische Siedlergesellschaft in Algerien das unter sich feiern, nicht an die unter Marschall Pétain praktizierte Kollaboration erinnert werden oder gar über ein unabhängiges Algerien nachdenken. Doch für die Kampfgenossen gegen Adolf Hitler in der Dritten Welt war Entkolonialisierung der einzig logische Schluss.