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Zum Tod Nagisa Oshimas : Durch die Schleusen der Wahrnehmung

Nagisa Oshima, 1932 bis 2013 Bild: dpa

Der Erfolg seines Films „Im Reich der Sinne“ war eine historische Ungerechtigkeit und eine List der Vernunft. Am Dienstag ist der japanische Regisseur Nagisa Oshima im Alter von 80 Jahren gestorben.

          3 Min.

          Tokio, im Frühjahr 1936. Ein Hotel in einem bürgerlichen Viertel. Der Besitzer, Kichizo Ishida, hat ein Auge auf Sada geworfen, eine ehemalige Prostituierte, die für ihn als Zimmermädchen arbeitet. Er erwischt sie dabei, wie sie einem anderen Paar beim Liebesspiel zuschaut, und sie gibt sich ihm hin. Und dann können die beiden nicht mehr aufhören. Der verheiratete Mann und die ältliche Angestellte, sie kommen nicht mehr voneinander los, sie schotten sich ab, mieten sich ein in ein Liebeshotel, wo sie ihre Tage in endlosen Umarmungen verbringen, nur unterbrochen von nächtlichen Spaziergängen, die ihre Einsamkeit noch betonen.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Einmal kommt eine alte Geisha ins Zimmer, und Sada treibt Kichizo dazu, mit ihr zu schlafen, dann geht die Liebestortur der beiden weiter, von Akt zu Akt. Schließlich bittet er sie, ihn mit ihrem Schal zu würgen, und so tötet sie ihn, auf dem Höhepunkt ihrer Lust. „Sada Kichizo für immer“ schreibt sie mit seinem Blut auf das Bettlaken, nachdem sie ihm den Penis abgeschnitten hat. Dann irrt sie mit dem Geschlechtsteil ihres Liebhabers durch die Straßen, bis die Polizei sie aufgreift.

          Es ist eine historische Ungerechtigkeit, dass der japanische Filmregisseur Nagisa Oshima mit diesem Film von 1976, der im Original „Ai no corrida“ und auf deutsch „Im Reich der Sinne“ hieß, weltberühmt wurde. Und es ist eine gelungene List der Vernunft. Denn Oshima, der seit Ende der fünfziger Jahre zornige und verzweifelte Filme über die japanische Gegenwart, über die Mühlen der Justiz, die Herrschaft der alten Männer und den Verrat der Jugend an ihren Idealen drehte, hatte sich mit all diesen Werken nie einen Namen im Westen gemacht, der mit Fellini, Bergman, Godard, Anderson und anderen genügend eigene Rebellen hatte und aus Japan lieber das humanistische Ideenkino eines Kurosawa oder Ozu sehen wollte.

          Der Weg zweier Liebender ins Nichts

          Und dann kam „Im Reich der Sinne“. Es war, verglichen mit Oshimas frühen Meisterwerken wie „Nackte Jugend“ und „Tod durch Erhängen“, ein eher konventioneller Film, mit Studiolicht und klassisch-strengen Schnittfolgen, und doch löste er eine bis heute anhaltende Erschütterung des Sehens aus. Denn Oshima zeigte den Sex, den seine Akteure vor der Kamera praktizierten, auf eine ganz unverblümte, realistische Weise, ohne dabei auch nur einen Moment lang die pornographische Lust des Voyeurs zu bedienen. Er richtete, anders gesagt, denselben anarchistischen Impuls, mit dem er zuvor in Japan die Stereotypen des Gerichts- oder Familienfilms, des Kriegs- und Jugendmelodrams zerbrochen hatte, auf das Genre des Liebesfilms. Im westlichen Kino, in dem man sich unter amour fou noch immer das vorstellte, was Marlon Brando mit Maria Schneider in Bertoluccis „Letztem Tango in Paris“ getrieben hatte, stieß er damit die Schleusen der Wahrnehmung auf.

          „Ai no corrida“ wäre nie zu der Legende geworden, die er ist, wenn dieser Film nicht auch ein Meisterwerk des Kinos wäre. Bis heute ist der Weg zweier Liebender ins Nichts auf der Leinwand nicht direkter und ergreifender erzählt worden. Zahllose Regisseure, von Altman und Truffaut bis Almodóvar und Tarantino, haben sich an dieser Geschichte abgearbeitet. Oshima selbst hat, als nach dem Kinostart eine Welle von Skandalen und Verboten über seinen Film hereinbrach, erklärt, er habe die traditionelle japanische Offenheit im Umgang mit Sexualität wiederherstellen wollen.

          Die Versöhnung findet nicht statt

          Das klingt nach der rückwärtsgewandten Utopie eines Pasolini, der sich und sein Kino als „Kraft des Vergangenen“ bezeichnete. Aber Oshima war alles andere als ein Traditionalist. Schon mit seinen frühen Filmen stellte er sich auf die Seite der japanischen Protestbewegung, die gegen das Sicherheitsabkommen mit den Vereinigten Staaten auf die Straße ging. Sein gesamtes Werk handelt davon, wie das Gesellschaftliche in Form von Moral und Konvention das Private durchdringt - und wie die Individuen mit ihren Gefühlen und Obsessionen dagegen aufbegehren. Noch in Oshimas letztem Film „Tabu“ (1999), der von sexuellen Verwirrungen in einer Samuraischule handelt, ist das Thema makellos durchgespielt, sein Blick darauf vom Alter ungetrübt, glühend und kalt zugleich.

          Nach „Im Reich der Sinne“ standen Oshima alle Türen im Kino offen. Er nutzte die Gelegenheit, um „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ zu drehen, die Geschichte eines britisch-japanischen Duells im Kriegsgefangenenlager, in dem Liebe, Ehre, Tabu und Todessehnsucht auf tragische Weise durcheinander geraten. Die Versöhnung von Osten und Westen findet nicht statt. Am Dienstag ist Nagisa Oshima achtzigjährig in Fujisawa gestorben.

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