Zum Tod von Chantal Akerman : Sie gab dem Publikum Freiheit
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Sie schuf im Kino, wie die „New York Times“ einmal schrieb, das „erste Meisterwerk des Weiblichen“: Chantal Akermann (1950 - 2015). Bild: /RAPHO/laif
Die belgische Regisseurin und Videokünstlerin Chantal Akerman hat sich bockig, zart und entschieden falschen Bildern verweigert. Sie setzte einen Wendepunkt fürs Filmemachen. Jetzt ist sie im Alter von 65 Jahren überraschend gestorben.
Chantal Akerman ist tot. Die belgische Filmregisseurin und Videokünstlerin, die bockig, zart, entschieden und konsequent sich falschen Bildern und geschönten Erzählungen des Lebens im Kino wie in der Kunst überhaupt verweigert hat, starb im Alter von fünfundsechzig Jahren überraschend in Paris. Sie war eine herausragende experimentelle Künstlerin, weithin mit ihren Videoarbeiten ausgestellt, etwa bei der Documenta in Kassel, mit Retrospektiven in Film- und Kunstmuseen in ganz Europa geehrt und als eine der einflussreichsten feministischen Filmemacherinnen in der ganzen Welt gefeiert.
Noch vor wenigen Wochen hatte sie ihren nun letzten Film „No Home Movie“ beim Filmfestival in Locarno vorgestellt, einen Film über das Sterben ihrer Mutter, einer Überlebenden von Auschwitz. Das Trauma des Überlebens, das Schweigen der Überlebenden, ist eines der Themen in Chantal Akermans Werk. In ihren Zellen stecke das Gefühl, sie selbst sitze in einem Gefängnis, sagte sie vor einigen Jahren in einem Interview.
Etwas nie Gesehenes auf der Leinwand
Minimalistisch, radikal, vermeintlich dilettantisch, streng persönlich, hyperreal – diese Begriffe fallen immer, wenn von ihrem Werk die Rede ist. Sie alle treffen zu, erfassen aber nicht, wie es war, zum ersten Mal einem ihrer Filme zu begegnen. Das muss irgendwann in den späten Siebzigern gewesen sein, und der Film war „Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“. Der Film mit dem bürokratisch anmutenden Titel entstand 1975. Er wurde zu einem der bestimmenden Filme nicht nur der Siebziger, sondern auch ein Wendepunkt im Filmemachen überhaupt.
Die Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen mit einem ihrer Filme ist unauslöschlich. Etwas zuvor nie Gesehenes, nicht einmal Erahntes fand auf der Leinwand statt: der Sieg des Banalen nämlich über den Helden – so ungefähr nannte das damals Frieda Grafe, während die „New York Times“ schrieb, dieser Film sei das „erste Meisterwerk des Weiblichen“.
„Jeanne Dielman“ war ein Schock, der drei Stunden und einundzwanzig Minuten dauerte. Der damalige Star des französischen Kinos, die rotblonde Delphine Seyrig, spielt die belgische Hausfrau Jeanne, die nach einem, wie es scheint, eigens erstellten Plan ein unfassbar eintöniges Leben ablebt. Zwei Tage umfasst der Film, und am ersten Tag geht alles gut. Jeanne empfängt ihren einen Kunden, den sie täglich als Prostituierte bedient; die Kartoffeln kochen, während sie ein Bad nimmt, sie knipst das Licht aus, wenn sie ein Zimmer verlässt, und knipst es an, wenn sie ein anderes betritt. Am zweiten Tag im zweiten Teil des Films bricht Chaos aus, nicht ein Jacques-Tati-artiges Chaos, sondern nur ein Zerbröckeln der perfekt choreographierten Abläufe, was aber eine ähnliche Erschütterung hervorruft. Am Ende steht ein Mord, für den wir kein Motiv erfahren und auch nicht, ob es Jeannes erster war.
Nichts ist wahrscheinlich, aber möglich schon. Das ist die Freiheit, die Chantal Akerman ihrem Publikum gab, und das war das Erstaunliche, das mit diesem Film plötzlich vor Augen trat: dass da die Geschichte einer Hausfrau erzählt wurde, in jeder Geste, jedem Schritt alltäglich und doch genau geplant, in der sich keine Kausalität festmachen ließ. In der etwas überaus Gewaltsames geschah, aber keine innere, nur eine äußere Entwicklung stattfand, Dass sich so etwas auf eine so spannende Weise erzählen ließ wie ein Hitchcock-Film, das war der eigentliche Schock. Die Befreiung vom Schmock, von der Banalität des Konventionellen. Mit „Jeanne Dielman“ erwies sich Chantal Akerman als eine Art Gertrude Stein des Kinos.
Später hat sie sich dann doch auch dem gewohnten Erzählen zugewandt, sie hat mit „Almayers Wahn“ sogar Joseph Conrad verfilmt. Und erst da wurde offenbar, wie zerrissen sie war.
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