Kinofilm „Inside“ : Der wilde Mann im Kunstgefängnis
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Ein guter Einbrecher kommt überall rein, aber mit etwas Pech nicht wieder raus: Willem Dafoe lernt unter Schmerzen, sich in der Kunstwelt einzurichten. Bild: Steve Annis/SquareOne
Das Smarthome als Käfig: Im Film „Inside“ kämpft Willem Dafoe als versehentlich eingesperrter Dieb in einer Luxuswohnung ums Überleben.
Der Kunsträuber steigt in die New Yorker Luxuswohnung ein und hat sieben Minuten, um die Gemälde zu stehlen. Routiniert nimmt er Bilder von den Wänden, doch das letzte, ein Selbstporträt von Egon Schiele, ist nicht zu finden. Adrenalin schießt durch den Körper des Diebes, die Uhr tickt, er muss schnell zum Ausgang, doch ein technischer Fehler lässt die Tür zuschnappen, bevor er fliehen kann. Die Alarmanlage schrillt ohrenbetäubend weiter, sodass man auch als Zuschauer erleichtert aufatmet, als der Dieb endlich die Kabel zum gestörten Touchscreen zertrennt hat. In der Stille offenbart sich die Tragweite des Schicksals: Die schalldichten Wände schlucken jeden Hilferuf, der Kontakt zum Komplizen über Walkie-Talkie ist abgebrochen und die Batterie bald leer.
Vergebens versucht der Dieb, die schwere Holztür aufzuschnitzen und die Fensterscheiben mit Kunstorangen einzuschlagen. Er zersägt teure Möbel und stapelt sie, um über das Oberlicht in die Freiheit zu klettern. Doch der Penthouse-Loft hat so absurd hohe Decken, dass daraus ein Turmbau zu Babel wird. Je mehr Tische und Stühle er ineinander verbarrikadiert, desto wackliger wird der Aufstieg. Die Hybris, die im Turmbau angedeutet wird, kann man auch als Botschaft des ganzen Films verstehen: Der Mensch geht an seiner Technik zugrunde.
Die außer Kontrolle geratene Klimaanlage macht das Luxusapartment zur Hölle und den Ausbruchsversuch zum Überlebenskampf. Mal steigt die Temperatur auf 40 Grad, dann kühlt sich die Luft eisig ab. Die Naturgewalten sind menschengemacht, aber deswegen nicht minder lebensbedrohlich. Damit dreht „Inside“ das Muster des Survival-Thrillers auf brillante Weise um. Klassiker des Genres wie „Cast Away“ mit Tom Hanks stellen den Menschen als Sonderling dar, der sich etwa nach einem Flugzeugabsturz durch das Dickicht schlägt. In „Inside“ aber ist der Mensch selbst das Wilde, das im Hightechgefängnis feststeckt. In der seelenlosen Penthouse-Wohnung kämpft er mit dem sprechenden Kühlschrank und der Sicherheitsanlage. Einsam und den Tod vor Augen legt er Kultur und Sitten ab.
Er wird zum Tier, das Kondenswasser aus dem Kühlschrank schleckt, einen schillernden Fisch roh aus dem Aquarium frisst und sich im Luxusbad mangels Toilettenspülung und sozialer Kontrolle hemmungslos erleichtert. Die Situation ist konstruiert. Am Anfang fragt man sich noch, warum der Kontakt zu Dieb Nummer drei, der in einem Hubschrauber fliegt, so abrupt abbricht und warum niemand sonst in dieser Millionenstadt zu Hilfe eilen kann. Warum hat der Protagonist kein Handy für Notfälle, und warum gibt es in dieser vor Technik strotzenden Wohnung nicht wenigstens einen alten Laptop oder ein Telefon? Warum fließt das Wasser nicht mehr aus dem Hahn, wohl aber aus der Sprinkleranlage für die Tropenpflanzen?
Doch sobald man derlei akzeptiert, ist das Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmemachers Vasilis Katsoupis ein sehenswertes Spektakel – auch aufgrund der schauspielerisch beeindruckenden One-Man-Show von Willem Dafoe. Der Camping-Trip im Highendapartment ist dabei nicht nur tragisch, sondern sorgt ebenfalls für Momente der Komik. Der nerventötende Kühlschrank zum Beispiel fragt den Überlebenskämpfer: „Hallo, wie wäre es mit einem Avocado-Smoothie?“, und fängt an, „Macarena“ zu spielen, wenn man die Tür zu lange offen lässt. Der Held ernährt sich unterdessen von Wodka und Kaviar, Hundefutter und Nudeln, die mangels Kochwasser für 24 Stunden eingelegt werden.
Einfache Bedürfnisse leiten seinen Tag: Essen, Trinken, Abkühlung, Wärme und natürlich die Simulation von Nähe zu anderen seiner Art. Sein einziger Leidensgefährte ist eine verletzte Taube vor dem Fenster, sein einziger Trost eine Frau, die als Reinigungskraft in dem Hochhaus arbeitet. Er stalkt sie auf den Bildschirmen der Überwachungskameras und verliebt sich – nicht in sie als konkrete Person, sondern in sie als andere Person überhaupt. Der Mensch ist eben nicht bloß ein nackter Körper, sondern ein soziales Wesen. Wer einsam ist, verwahrlost nicht nur, sondern dreht durch. Die Außenwelt hinter der Fensterfront ist schon nach wenigen Stunden nur noch Kulisse. Ab und an fliegt ein Hubschrauber vorbei, einmal glitzert das Feuerwerk zum 4. Juli. Seit der Pandemie können wir uns alle einfühlen in diese Verzweiflung.
Besonders rührend ist eine Szene, in der Dafoe, um der Hitze zu entfliehen, den Kopf in den Kühlschrank steckt und anfängt zu weinen. Dazu Musik aus dem Club-Urlaub. Man versteht, warum der einsame Wilde sich Rituale schafft, die von außen keinen Sinn ergeben. Der Film ist eine grandiose Parabel auf den Menschen, der nicht mehr den Göttern die Schuld an den Naturgewalten geben kann und gerade deshalb einen Schrein erbaut. Im Wahn huldigt er seinem eigenen Wandgekritzel, weil er im tiefsten Herzen weiß, dass seine Lebensform für diese missliche Lage verantwortlich ist: für die Hitze, die Kälte und die Sintflut aus der Sprinkleranlage.