Wikipedia : Wir sind Sprengstoff!
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Wikipedia-Gründer Jimmi Wales Bild: picture-alliance/ dpa/dpaweb
Knapp über zwei Millionen Artikel zählt die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“. „Kleinere Ungenauigkeiten“ nimmt man zugunsten der Vollständigkeit in Kauf. Wie „Wikipedia“ im Internet Wissen für alle schafft und zerstört.
Ein neuer Begriff geistert durch Trendbüros und Zeitgeistsoziologien und verspricht ein Lehrstück in Sachen angewandter Zivilcourage: die „Schwarmgesellschaft“.
Er meint ein Bündel von Zivilisten, die sich über moderne Medien spontan organisieren, zunächst Mehrheiten bilden, dann konsensual Entscheidungen treffen, ihnen schließlich zur Durchsetzung verhelfen und nach getaner Arbeit auseinandergehen. Sie müssen sich weder gesehen noch Sympathie füreinander empfunden haben. Ihr Arbeitsverhältnis ist flexibel, dynamisch und zeitlich befristet. Was sie für kurze Zeit zusammenbringt, ist das gemeinsame Interesse für die Sache.
Knapp über zwei Millionen Artikel
Die freie Internetenzyklopädie „Wikipedia“ ist der Musterschüler dieser Gesellschaft sich rastlos organisierender Individuen. Auf der Grundlage unverbindlicher Zusammenarbeit motivierter Wissensagenten hat sie seit ihrem Start im Jahr 2001 eine Erfolgsgeschichte geschrieben, die sich neben dem unentgeltlichen Engagement ihrer Mitarbeiter vor allem einer genialen Logistik verdankt:
Die benutzerfreundliche Software ihrer Website, das sogenannte „Wiki“, ermöglicht es auch dem Laien, an der Erweiterung des Wikipedia-Archivs teilzunehmen und so zu seinem exponentiellen Wachstum beizutragen. Knapp über zwei Millionen Artikel zählt die Online-Enzyklopädie heute. Sie übertrifft damit Internet-Enzyklopädien wie Microsofts „Encarta“ und rechnet sich zu den fünfzig meistbesuchten Seiten im gesamten Netz.
Offene Gemeinschaft von Gleichgesinnten
Das Fiebrige und Fessellose dieser Entwicklung lag schon im Titel des ersten internationalen Wikipedia-Kongresses in Frankfurt: „Wikimania“. Die Wikipedia-Gemeinde präsentierte sich als offene Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die von der geballten Medienaufmerksamkeit sichtlich geschmeichelt wirkte. Mit unbändiger Energie und durchdringendem Blick trat Wikipedia-Gründer und Vordenker Jimmy Wales ans Mikrofon und verkündete schneidig die Zukunftsvisionen des Projekts. Wer ihm zuhört, dem wird klar, daß der Lockruf der Freiheit den visionären Überschuß garantiert, der die aktivsten der rund 50.000 Mitarbeiter von Wikipedia oft mehrere Stunden am Tag unentgeltlich arbeiten läßt.
Auf dem Nährboden der OpenSource-Bewegung und der libertären Ideologie des Internets gewachsen, sieht die Wikipedia-Gemeinde im Netz das subversive Medium, mit dem sich ein von wirtschaftlichen und staatlichen Herrschaftsstrukturen freier Raum gestalten läßt. Die freie Software der Wikis gibt jederzeit Zugang zum Quellcode der Seiten. Auf ihrer Basis bildete sich eine graswurzeldemokratische Bewegung ohne kommerzielle Hintergedanken.
Das Wissen befreien
Bar jeglicher dialektischen Abwägung goß Wales seinen ungestümen Glauben an die Macht der Freiheit in ein griffiges Zehn-Punkte-Programm. „Wir wollen das gesamte Wissen befreien“, lautet sein Credo. Daß man auch die Wissenschaften durch Online-Publishing dem schnellen Zugriff zugänglich machen will, sekundierte ein Diskussionsteilnehmer. Gerade dieses Ansinnen aber wirft die Frage nach der Zuverlässigkeit des von Wikipedia verteilten Wissens auf, die der Kongreß bis dahin sorgsam vermieden hatte. Besteht die Befreiung des Wissens im Zeitalter seiner digitalen Modifizierbarkeit nicht vor allem in der Garantie seiner Qualität und weniger in seiner schieren Masse und schnellen Verfügbarkeit? Wer schafft das Vertrauen in die jederzeit manipulierbaren Realitäten des Netzes, wenn nicht eine strenge Qualitätskontrolle? Wikipedia entzieht sich diesen Fragen mit einem demokratischen Kompromiß. Es setzt auf das Prinzip der gegenseitigen Überwachung seiner Teilnehmer und vertraut darauf, daß sich im freien Spiel der herausgebenden Kräfte am Ende eine ausgeglichene Version durchsetzt.