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Video-Filmkritik „No Turning Back“ : Jetzt wissen wir, was ein Moralthriller ist

Bild: F.A.Z., Studiocanal

Ein Film, der nur in einem Auto spielt; Tom Hardy als einziger Schauspieler; das Spannendste, was derzeit zu sehen ist: „No Turning Back“ zeigt, wie ein Mann versucht, verantwortlich zu handeln, während ihm alles entgleitet.

          2 Min.

          Ivan Locke fährt von Birmingham nach London - allein in seinem Auto, das die Kamera nie verlässt, und drum herum kein Zombie-Angriff, Monsterüberfall, Drohnentreffer oder wenigstens Verkehrsunfall. Wie wird aus diesem Satz ein Film, bei dem der Zuschauer den Atem anhält?

          Verena Lueken
          Freie Autorin im Feuilleton.

          Es hilft, wenn der Darsteller dieses Ivan Locke Tom Hardy ist, ein kräftiger Mann von immenser Intensität, der auch in kleineren wie größeren Rollen die Szenen beherrscht, etwa in Tomas Alfredsons „Dame, König, As, Spion“ wie auch als Batmans Gegenspieler in Christopher Nolans „The Dark Knight Rises“. Aber selbst ein Schauspieler von Tom Hardys Format braucht etwas, was er spielen soll. Robert Redford hatte in „Lost“ im vergangenen Jahr, allein, wie er auf seinem leckgeschlagenen Boot während des ganzen Films auch war, einen mächtigen Gegenspieler: das Meer. Zwischen Birmingham und London aber sind weit und breit keine Naturgewalten in Sicht. Es regnet hin und wieder, das ist alles. Was also geschieht da auf der Autobahn?

          Es gibt tatsächlich kein Zurück

          Hardy telefoniert. Mit seinem Chef. Mit einem Mitarbeiter. Mit einer Frau. Mit seinen Söhnen. Schließlich mit seiner Frau. Mehr passiert nicht. Manchmal spricht er mit Blicken in den Rückspiegel oder in einer angedeuteten Körperdrehung zum Rücksitz hin noch mit einem unsichtbaren Passagier. Doch auch das ist kein übernatürliches Phänomen, sondern eine Art Selbstgespräch mit seinem abwesenden Vater, seinem immer schon abwesenden Vater. Und darum geht es im Kern: dass Ivan Locke nicht ein immer abwesender Vater sein will. Dass er Verantwortung übernehmen will für eine Nacht, in der er einigermaßen betrunken einer Kollegin ein Kind gemacht hat, das jetzt geboren wird. Und zwar in London. Einer Kollegin, die allein ist und voller Angst und die ihn in diesen Stunden braucht, eine Frau, die er über diese eine betrunkene Nacht hinaus nicht begehrt, eine Frau, der er nie gesagt hat, er liebe sie, der er jetzt aber beistehen will. Muss. Als könnte er das moralische Versagen des eigenen Vaters damit wettmachen.

          Vermutlich fällt diesem Verantwortungsbewusstsein seine Familie zum Opfer. Das ist eine Konsequenz, die Locke in Kauf nehmen muss, um das Richtige zu tun. Dabei hadert Locke nicht mit seiner Entscheidung, zu dieser Frau zu fahren, obwohl er eine Familie hat, in der er glücklich ist. Wir haben es also noch nicht einmal mit einem moralischen Dilemma zu tun, in dem Locke steckt. Er hat sich entschieden, und die Konsequenzen brechen schon in dieser Nacht, auf dieser Fahrt über ihn herein. Es gibt tatsächlich kein Zurück für ihn, „No Turning Back“.

          Es hält ihn in Atem

          Es liegt also neben dem Darsteller vor allem am Drehbuch, ob wir diesem Mann am Steuer für eine Spielfilmlänge zuschauen. Der Regisseur Steven Knight hat es selbst geschrieben und clever konstruiert. Er gibt seiner Figur, während sie räsoniert, aber die Entscheidung, nach London zu fahren, nie in Frage stellt, keine Hintertür, durch die Locke vielleicht doch noch seine Frau halten, seine Familie retten könnte. Er gibt ihm einfach eine Menge zu tun.

          Zum Beispiel läuft ein Fußballspiel im Fernsehen, und Lockes Söhne und seine Frau warten darauf, dass er es mit ihnen anschaut, sie haben Würstchen gekauft und die Trikots der Heimatmannschaft angezogen, und darüber spricht er mit ihnen am Telefon, bis er irgendwann damit herausrückt, dass er in die andere Richtung unterwegs ist und warum. Und eigentlich wird er an seinem Arbeitsplatz gebraucht, Er ist Bauleiter auf einer Großbaustelle, auf der eine riesige Lieferung Beton erwartet wird, die er eigentlich beaufsichtigen muss. Es geht um das Fundament eines Hochhauses, in dem Tausende Menschen wohnen und arbeiten werden. Alles hat Locke im Detail geplant, jetzt muss ein Mitarbeiter eingewiesen werden, die Sache zu übernehmen. Sein Chef ist wütend, eine Genehmigung fehlt, eine Straße muss abgesperrt werden, der Ordner mit den Unterlagen ist verschwunden, solche Sachen halten den Fahrer, der mehrere Anrufe gleichzeitig annehmen, unterbrechen oder weiterführen muss, in Atem. Es sind keine atemraubenden Geschehnisse. Und doch. Ein Mann hat eine Entscheidung getroffen und ist dabei, den Preis zu zahlen. Spannenderes ist im Augenblick nicht zu sehen.

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