Video-Filmkritik : Die Vorgeschichte der RAF: „Wer wenn nicht wir“
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Bei den Ensslins wiederum geht es dialogbezogener zu, aber auch hier sind wesentliche Lebenslinien nicht zu Ende geführt. Der Vater, Pastor Ensslin (Michael Wittenborn), stand während der Nazizeit der Bekennenden Kirche nah, meldete sich aber, um der Festnahme zu entgehen, an die Front. Das wirft seine Tochter ihm vor, während ihre Mutter (Susanne Lothar) am Kopfende des Tisches sitzt und strafend schaut - das könnte auch eine Szene aus Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ sein, der vor einigen Jahren als Vorgeschichte des Nationalsozialismus gedeutet wurde.
So kann es natürlich gewesen sein. Aber waren so oder so ähnlich nicht die Elternhäuser, aus denen sich die gesamte Jugendrevolte in den sechziger und siebziger Jahren rekrutierte? Und waren die politischen Begleitumstände, die Veiel mit den üblichen Bildern von Napalmbombern über Indochina, dem Eichmann-Prozess oder der Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin am 2. Juni 1967 in Erinnerung ruft, nicht gerade jene, die für die Politisierung der Jugend sorgten, von der ja nur ein kleiner Teil in den Untergrund abtauchte? Woher also kam die Militanz? Woher der Fanatismus und, wie der Titel sagt, die Selbstermächtigung, die Gudrun Ensslin befähigte, ihr Kind aufzugeben, das sie mit Vesper bekommen hatte?
Die Liebe zur Revolution
Möglicherweise werden wir nie erfahren, warum Gudrun Ensslin zur Terroristin wurde und Vesper und viele andere nicht. Eine Antwort, die Veiel über das allgemeine Unbehagen an Deutschland hinaus andeutet, lautet: Sex. Keine Hörigkeit gegenüber Baader, wie sie immer wieder beschrieben wurde, sondern Neugierde auf eine härtere Gangart, Unterwerfung auch unter einen dominanten Mann, der mit künstlichen Wimpern immer noch viriler wirkt als Bernward in seinen besten Augenblicken. Aber es ist nur eine Andeutung, wie auch der Rausch der Freiheit, der jene Jahre doch durchzogen haben soll, nur angedeutet bleibt - in einer Tanzszene, einer Autofahrt, in Rocksongs wie „Summer in the City“.
Wäre nicht Andres Veiel (der von Unterhaltung im Kino nichts wissen will) der Regisseur dieses Films, könnte man an „Wer wenn nicht wir“ natürlich auch die Frage stellen: Erzählt er eine gute Geschichte? Erzählt er sie spannend, geht sie auf? Sehen wir etwas in den Figuren, das, historisch korrekt oder nicht, uns bewegt? Immerhin geht es ja auch darum, wie eine Mutter (die zufällig Gudrun Ensslin heißt), einem Mann (Andreas Baader) und einer Sache (der Revolution) zuliebe, ihren Sohn aufgibt.
Historisch verkehrt, filmisch überzeugend
Dieser Augenblick, wenn Gudrun im Türrahmen steht, ihr Sohn Felix im einen Zimmer, Bernward im anderen, ist einer der stärksten - und das spricht dann doch sehr für den Film. Wir spüren, wenn Bernward ein bisschen weniger winselnd dastünde, wenn er ihr den Weg versperrte, wenn er stärker wäre als sie, dann hätte sie möglicherweise die Entscheidung, ihr Kind zurückzulassen, nicht getroffen.
Das ist einer der Augenblicke in „Wer wenn nicht wir“, in dem wir nah bei den Figuren sind und spüren, es hätte anders kommen können. Was historisch möglicherweise verkehrt, filmisch aber überzeugend ist. Davon etwas mehr, etwas weniger dagegen vom allgemeinen Deutschlandgefühl jener Jahre, und dies wäre ein Film, den wir wirklich noch gebraucht haben.