Video-Filmkritik: „Art War“ : Unsere Bilder übermalen eure Taten
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Bild: missingfilms
Die Sprayer schlagen zurück: Marco Wilms Dokumentarfilm „Art War“ zeigt den dramatischen Protest von Künstlern in Kairo im arabischen Frühling.
Sie gehen raus, obwohl sie wissen, dass Scharfschützen auf sie warten. Sie recken die Arme in die Höhe, im scheinbaren Schutz der Masse. Dann knallt es, einmal, zweimal, Schreie, die Kamera kippt zur Seite, wackelt.
„Es begann mit dem Schrei der Unterdrückten“, singt ein ägyptischer Hiphopper über die Demonstranten auf Kairos Straßen, „und es endete im brennenden Inferno.“ Zu sehen ist ein junger Mann, sein weißes Hemd ist blutig. Bevor wir das erkennen, brüllt jemand: „Sie haben ihm in den Kopf geschossen.“ Seine Freunde tragen ihn weg. Der Kopf ist voller Blut. Der junge Mann stirbt. Es knallt wieder.
Der arabische Frühling
Diese Szene im Dokumentarfilm „Art War“ zeigt die Zerschlagung von friedlichem Protest mit gezielten Schüssen und was aus vielen anderen Ländern des arabischen Frühlings (und zwei Jahre vorher von den Protesten in Teheran) berichtet wurde: So kann man nicht leben, aber wer das auch nur sagt, riskiert den Verlust dieses Lebens.
Freiheit und Toleranz sind da keine hehren Ideale, sondern das Einzige, worauf die jungen Menschen hinarbeiten können, wenn sie sich nicht völlig aufgeben wollen. Die Ausweglosigkeit selbst ist, was die Forderungen nach einem Ausweg so stark macht. Von drei Jahren Hoffen und Bangen und der verzweifelten Arbeit am Möglichen erzählt der Film - und vom Medium des Möglichen: der Kunst.
Die verpanzerte Gesellschaft aufbrechen
Die Kamera führt Marco Wilms, der fast während der gesamten Drehzeit in Kairo gelebt hat, um Künstler des arabischen Frühlings zu begleiten: den Musiker Ramy Essam, die Künstler Ganzeer, Ammar Abo Bakr und Mohamed Khaled und die Electropop-Sängerin Bosaina - ein kleiner Kreis von Aktionisten, die ihre verpanzerte Gesellschaft aufbrechen wollen. Und noch einer taucht ab und an auf: der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad, der seit der Veröffentlichung der Autobiographie „Mein Abschied vom Himmel“ in Ägypten durch eine Fatwa bedroht wird.
„Art War“ ist in seiner fatalistischen Präzision ein Glücksfall. Marco Wilms hält den Seismographen direkt ins brodelnde Zentrum der Unruhe. Er führt vor, was bislang nur abstrakt begreiflich schien: In Ägypten sind alle dissidenten Gruppen umstellt von Feinden. Das Regime tötete die Demonstranten, die Muslimbrüder jagen die Künstler, das Militär metzelt die Muslimbrüder nieder, die Künstler bejubeln das Militär. In den Graffiti auf den Wänden der Stadt erkennt man das Trauma einer ganzen Generation. Die Renaissance der Sprayer-Kunst ist politisch erkämpft. Straßenkunst kannte Kairo vor der Revolution nicht. Der öffentliche Raum war kein Ort, an dem man sich als Künstler gern aufhielt, ihn gar als Oberfläche für politische Botschaften nutzte. Er bedeutete Kontrolle.
Zeichenschlacht anstatt Waffen
Was ist geschehen? Nahaufnahme auf Ramys Gesicht, er wurde von Polizisten geschlagen. Nun liegt er auf seinem Bett, grün und blau im Gesicht, blutige Striemen auf dem Rücken. Der „Art War“ beginnt: Die Künstler wehren sich, nicht mit Schlagstöcken und Waffen, sondern mit Zeichenschlachten. Im November 2011 infiltriert ein Künstler die Scharfschützen und beobachtet einen Polizisten dabei, wie er neunzehn Demonstranten in die Augen schießt. Die Künstler verbringen die nächsten Nächte damit, sein Konterfei an die Wände der Stadt zu sprayen: „Wanted“. Das Volk sucht ihn, findet ihn. Er wird den Behörden übergeben und rechtskräftig verurteilt. „Wann immer etwas passiert, übertragen wir es auf die Wand, damit das Volk es sieht“, sagt Ammar.