Kino : Visueller Reichtum: „Chihiros Reise ins Zauberland“
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Film-Kritik: "Chihiros Reise ins Zauberland" Bild:
In Japan war es der erfolgreichste Film aller Zeiten: Miyazaki Hayaos oscar-gekrönter Zeichentrickfilm „Chihiros Reise ins Zauberland“ schlägt uns in den Bann durch einen visuellen Reichtum, der überwältigend ist.
Als "Chihiros Reise ins Zauberland" im vergangenen Jahr auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann, war die Verblüffung groß bei all jenen, die Trickfilme immer noch für Kinderkram halten. Die Berliner Jury aber hatte erkannt, was in dem Werk von Miyazaki Hayao steckt: großes Kino auf höchstem ästhetischen Niveau und ein Drehbuch, das seinesgleichen sucht, weil es in zwei Stunden eine Bildungsgeschichte erzählt, in die japanische Mythologie einführt, ein Abenteuer reportiert, eine Liebe entwickelt und dabei noch Zeit genug hat für etliche sozialkritische Anspielungen. Mit diesem Werk hat der japanische Trickfilm eine neue Dimension erreicht. Es ist, als habe Miyazaki in zwei Stunden die Quintessenz seiner vierzigjährigen Karriere als Trickfilmer gepackt.
"Chihiros Reise" wurde in Japan prompt zum erfolgreichsten Film aller Zeiten und löste damit "Prinzessin Mononoke" ab, ebenfalls ein Werk von Miyazaki. Was die Filme des 1941 geborenen Chefs des Ghibli-Studios, der stets auch Regisseur und Autor seiner Filme ist, so bemerkenswert für das japanische Publikum macht, ist die Aufnahme der Shojo-Tradition. "Shojo" bedeutet "kleines Mädchen" und bezeichnet jene Bücher, Comics oder Filme, die sich der Probleme und der Weltsicht von heranwachsenden Frauen annehmen. Alle menschlichen Hauptfiguren Miyazakis sind Mädchen. Das begann mit seiner Arbeit als Zeichner an der vor dreißig Jahren in Japan produzierten Fernsehtrickserie "Heidi" und setzte sich im Kino fort: von seinem ersten großen Erfolg "Nausicaä" (1985, nach der Vorlage eines von Miyazaki selbst gezeichneten Manga) über den grandiosen Film "Mein Nachbar Totoro" (1988), den nur ein Jahr später entstandenen, kaum minder gelungenen "Kikis Lieferservice" bis hin zu "Prinzessin Mononoke" (1997) und jetzt "Chihiros Reise".
Sagen- und Kulturschatz Japan
Doch bisher siedelten alle Filme des Ghibli-Studios ihre Handlungen in der Vergangenheit oder in mythischen Epochen an. Das widersprach dem gängigen Shojo-Prinzip, und zudem brach auch Miyazakis Zeichenstil mit der Tradition, indem er seinen Figuren eher europäische Züge verlieh, selbst wenn die Handlung in Japan angesiedelt war. "Japaner hassen ihre eigenen Gesichter", hat Miyazaki dazu festgestellt. Um so mehr bedient er sich beim reichen Sagen- und Kulturschatz seines Heimatlandes.
Das ist in "Chihiros Reise" nicht anders. Doch erstmals spielt ein Miyazaki-Film im Japan von heute, und die junge Titelheldin ist als typisch japanisches Mädchen gezeichnet. Auf dem Weg in ein neues Heim nimmt die Familie Hagino eine falsche Abzweigung und entdeckt einen geheimnisvollen Durchgang, der die Eltern und Chihiro in eine Zauberwelt führt, die nicht ganz zufällig einige Verwandtschaft mit der Vergnügungsinsel aus Disneys "Pinocchio"-Verfilmung hat. Dies ist überhaupt das Vorbild, an dem sich Miyazaki orientiert, und da "Pinocchio" immer noch als perfektester Trickfilm aller Zeiten gelten darf, ist der Anspruch des Japaners klar. Da paßt es, daß Disney die amerikanischen Verleihrechte für "Chihiros Reise" erwarb, den Film allerdings in den Vereinigten Staaten eher zögerlich in die Kinos brachte; trotzdem schnappte er gleich zwei Disney-Konkurrenten in diesem Jahr den Oscar für den besten langen Animationsfilm weg.
Ein vertrauter Stoff
Dabei hat gewiß eine Rolle gespielt, daß Miyazaki wie kein zweiter Trickfilmer westliche Ästhetik mit fernöstlichen Motiven zu vermählen versteht. "Chihiros Zauberreise" ist ein kleines Kompendium der japanischen Götter- und Geisterwelt - und trotzdem ein vertrauter Stoff. Die unvorsichtigen Eltern werden in Schweine verwandelt, fortan ist das Mädchen auf sich allein gestellt. Es entdeckt ein Badehaus, worin sich die Götter nach ihrem harten Tagewerk entspannen, und nimmt dort eine Stelle an.
Geleitet wird dieser chaotische Betrieb, den Miyazaki als Persiflage auf sein eigenes Studio inszeniert (er selbst hat sich als vielarmigen Heizer Kamaji in den Film gezeichnet, ohne dessen Arbeit nichts funktioniert), von der Hexe Yubaba. Diese Figur hat in der Trickgeschichte nicht ihresgleichen: Der gewaltige, mit Runzeln übersäte Kopf ruht schwer auf einem vergleichsweise winzigen Körper. Die ganze Ikonographie der Figur signalisiert eine weise, gütige Frau, doch Yubaba entpuppt sich als böse Zauberin, die alle Bediensteten des Badehauses dadurch in ihrem Bann hält, daß sie ihnen die Namen geraubt hat. Mit der Hilfe des derart versklavten Flußgottes Kohaku (dessen Gestalt als Drache ein dreister Diebstahl bei Michael Endes "Unendlicher Geschichte" genannt werden kann, aber Miyazaki bedient sich eben beliebig bei Vorbildern aller Art) und des gutherzigen Kamaji bricht Chihiro die Schreckensherrschaft.
Die gute Schwester
Doch wie immer bei Miyazaki sind Gegenspieler nicht eindimensional böse, wie es auch mit Ausnahme der Hauptfiguren kein ungebrochenes Gutes gibt. Yubaba hat eine Zwillingsschwester, die ihr bis aufs Haar gleicht, charakterlich aber genau das Gegenteil repräsentiert. Diese Verdoppelung, dazu das häufige Motiv der Maskierung oder die Verwandlung Kohakus in einen schönen jungen Mann halten "Chihiros Reise" permanent in der Schwebe: Wie Chihiro selbst ist sich auch der Zuschauer nie sicher, was hier Traum und Wirklichkeit, wer Freund und Feind, wo Bedrohung und Hilfe zu sein scheint.
Diese Unsicherheit aber hat nichts Unentschiedenes - selten gab es einen Film, der durch seine Geschlossenheit derart in den Bann schlägt wie "Chihiros Reise". Sein visueller Reichtum ist überwältigend, und das Repertoire an skurrilen Figuren, darunter etliche Reminiszenzen an ältere Werke Miyazakis, ist schier unendlich. Was den Film jedoch zu einem Meilenstein macht, ist die Atmosphäre, die er aus diesen Ingredienzien erschafft. Bei allem Eklektizismus ersteht auf der Leinwand eine in sich vollkommen schlüssige Welt, deren Blumen man zu riechen, deren Regen man zu spüren und deren Ängste man zu teilen glaubt.