Video-Filmkritik: X-Men : Mutierte Kätzchen gegen Richard Nixon
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Bild: 20th Century Fox
Bryan Singers Film „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ elektrisiert die Nostalgie. Auf einer Zeitreise zurück in die frühen Siebziger sichern die Comichelden ihre Zukunft.
Schwierige Liebe, nicht nur zu ihresgleichen, ist der einzige Leitstern, dem Leute folgen können, die der Weltlauf zwingt, ihr Leben auf der Flucht vor denen zu verbringen, die sie nicht in Ruhe lassen wollen. Das ist, in einem Satz, die Moral von „X-Men: Days of Future Past“, die dieser laute, grelle, aber nicht dumme Film von allen Seiten anschaut, abwägt, dann beerdigt und schließlich, nicht ganz schmerzfrei, wiederauferstehen lässt.
Unterwegs erlebt man viel Gelungenes, zum Beispiel die bestchoreographierte Zeitlupensequenz, die sich seit der bullet time in „The Matrix“ (1999) auf der Leinwand abgespielt hat, und einen souveränen Einsatz herrlichster Popmusik mit Patina (die unsterbliche Ewan-MacColl-Nummer „The First Time Ever I Saw Your Face“, gebetet von Roberta Flack). Erleichtert sein darf man darüber, dass bei der Inszenierung gut dokumentierter Zeitgeschichte (Vietnamkrieg, Richard Nixons Kabinettsintrigen) keine billigen Retro-Plastikförmchen zum Einsatz kommen.
Comic über eine Mutanten-Gruppe
Dabei hat man es hier nicht mit der Autorenkino-Adaption eines Romans von Jonathan Lethem oder David Mitchell zu tun, sondern mit den zuerst in Comic-Heften erzählten Erlebnissen einer Gruppe von Mutanten, die das Bewusstsein eines der Ihren aus der nahen Zukunft, in der sie unter einer staatlichen Terrorkampagne leiden, in die Vergangenheit schicken, damit das, was sie quält, an seinem historischen Ausgangspunkt verhindert wird.
Haarsträubender Unsinn, klar. Man darf solche Superheldengeschichten in einer Welt der Grubenkatastrophen, todkranken Kinder und idiotischen Kriege für abwegig oder läppisch halten. Noch vor kurzem war auch die Filmkritik der Meinung, man könne das ganze Superheldenzeug denen überlassen, die einfach nicht genug von Wirklichkeit und Kunst wissen - Kindern und Infantilen.
Popkulturelle Wirkung
Spätestens seit Christopher Nolans „Batman Begins“ (2005) hört und liest man diese Sicht auf die Sache immer seltener. Das liegt nicht an Bestechung durch die Kulturindustrie. Die betreffenden Filme sind stattdessen mittlerweile oft wirklich ziemlich gut, noch öfter immerhin passable Unterhaltung, und die paar Rohrkrepierer („Green Lantern“, gütiger Gott!), die es besser nicht gäbe, kommen in jedem Genre vor. Die nächstliegende Erklärung für die gegenwärtige Hochblüte einer Filmgattung, die inzwischen weit über die Fan-Zirkel der Comic-Philologie hinaus popkulturelle Wirkungen entfaltet, ist eine technische: Dank avancierter Computergraphik stehen jetzt Szenenbilder und Effekte zur Verfügung, die den Comic in Bewegung plausibel machen können. Dies einmal gesetzt, braucht es nur noch selbstbewusste Schauspielerei, die sich vom irren Dekor einrahmen lässt.
Und so zeigt sich etwa Michael Fassbender wie schon in „X-Men: First Class“ (2011) als Erik Lehnsherr alias Magneto von seiner stattlich-rachsüchtigsten Seite, als ihm eine Szene, in der er ein Sportstadion ums Weiße Haus wickelt, den nötigen Echoraum dafür bereitstellt. Hugh Jackman kann als Logan alias Wolverine wieder einmal die passenden Knurrgesichter schneiden, wenn Rechner ihm die Knochen zu Klauen verlängern. Und die Entdeckung der Stunde, Evan Peters als Pietro beziehungsweise Peter Maximoff, profitiert sichtlich davon, dass er seine schlau-frechen Malcolm-Mc-Dowell-als-Alex-in-Clockwork-Orange-Grimassen ziehen kann, während Computertricks die Erzählzeit um ihn her zusammenquetschen wie Kaugummi. Auch andere großkalibrige Talente wie Peter Dinklage, Patrick Stewart und Halle Berry kommen im Computertrubel gut zurecht.
Generationenporträt eines abgebrochenen Aufbruchs
Technische Voraussetzungen, in deren Resultaten Profis herumtollen wie Hunde im Stadtpark - ist das alles? Die notwendige Bedingung fürs Gelingen der neuen Superheldenfilme mag darin stecken, die hinreichende ist jedoch eine andere. Man erkennt sie, wenn man sich klarmacht, dass die schönste mimische Leistung in „X-Men: Days of Future Past“ mit Trick-Tumult nichts zu tun hat: James McAvoys vom Lehrer und Philanthropen zum Junkie und Misanthropen heruntergekommener Professor Charles Xavier, der auf der 1973er Handlungsebene das Generationenporträt des abgebrochenen Aufbruchs von 1968 liefert.
Ja, so erschöpft waren die Leute, deren Comics man dann in den Siebzigern und Achtzigern gelesen hat. Man? Wer ist „man“? Nun ja, vor allem sind es die Urheber der besten unter den neuen Superheldenfilmen, Leute wie Singer oder Nolan, geboren 1965 (Singer) oder 1970 (Nolan), also gerade rechtzeitig, um Superhelden-Comics zu einem Zeitpunkt kennenzulernen, als dieses Genre seine bis dahin besten Autoren fand - in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern: Frank Miller (für Filmvergleichsbedürftige: der Ridley Scott der Gattung), Alan Moore (ihr Stanley Kubrick) und Chris Claremont (ihr Steven Spielberg).
Neue weibliche Rollenmodelle
Unter diesen dreien war Claremont der Zugänglichste - aber deshalb nicht der Simpelste: Von der psychologisch ausgefeilten Erforschung heikler Gruppendynamik unter Verfolgungsdruck über die Ausschöpfung widerspruchsreicher Metaphernpotentiale („Mutation“ als Code für ethnische, jugendkulturelle oder sexuelle Abweichung) bis hin zum Entwurf neuer weiblicher Rollenmodelle (Wissenschaftlerin, emanzipierter Popstar) reichte das Spektrum seiner erzählerischen Möglichkeiten, und immer verließ er sich dabei aufs Gerüst des Genres, in dem er auch mit verbundenen Augen herumklettern konnte, ohne je die Balance zu verlieren.
„Days of Future Past“, erschienen 1981, gehört zu Claremonts berühmtesten Geschichten - auch weil der Autor damals eine neue Perspektive in seinen Kosmos aufgenommen hatte; die Sicht eines hochbegabten Mädchens, „American-Jewish teenage genius“, Kitty Pryde - ihr erster größerer Auftritt wurde auf der Titelseite von „Uncanny X-Men“, Ausgabe 139, mit den Worten angekündigt: „Welcome to the X-Men, Kitty Pryde - Hope you survive the experience“.
Bewunderung für Kitty Pryde
Eine amerikanische Freundin hat dem Verfasser dieser Filmrezension gestern gemailt: „Alle Mädchen an meiner Schule, die damals überhaupt Marvel-Comics gelesen haben - das war ja immer noch weitgehend ein Jungshobby -, wollten Kitty Pryde sein.“ Ich weiß genau, was sie meint: Wir Jungs, die wir uns mit heißen Ohren in die Hefte gruben, wollten damals ja auch alle Kitty Pryde kennen. Der produktionsinterne Arbeitstitel des Singer-Films, um den es hier geht, war: „Hello Kitty!“ Der Mann ist also ein Fan. Kitty Pryde hat keine Riesenrolle in „Days of Future Past“, aber Ellen Page macht ihr keine Schande, wie ja der ganze Film die Figuren achtet, die Claremont besser als irgendwer geschrieben hat und die Dave Cockrum und John Byrne am besten gezeichnet haben.
Ich bin bei dieser Sache alles andere als objektiv oder detachiert. Ich dachte, als ich im Kino saß und den Film sah, dauernd distanzloses Zeug wie: Schau, Bishop ist auch da, und ist das nicht Wanda, die da brav bei Pietro sitzt (die Cast-Liste sagt nur: „Peter’s Little Sister“)? Singer mag diese Leute, das sieht man. Ich mag sie auch. Nein, es ist mehr - es ist das, was Fans erleben dürfen, wenn sie älter werden: schwierige Liebe.