Videofilmkritik „Son of Saul“ : Auschwitz sollte nicht gut aussehen
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Bild: F.A.Z., Sony Pictures
Der oscargekrönte Film „Son of Saul“ des Ungarn László Nemes führt uns bis an die Türen der Gaskammern. Brauchen wir das, um nicht zu vergessen?
Nichts, was gegen den Film „Son of Saul“ einzuwenden ist, hat mit diesem Gesicht zu tun. Vermutlich werden wir es lange nicht vergessen. Verschlossen, als wäre es von hinten vernäht. Mit toten Augen, die manchmal gehetzt blicken, den Nacken von empfangenen und erwarteten Schlägen gebeugt. Es gehört Géza Röhrig. Er ist ein ungarischer Dichter, kein Schauspieler.

Redakteurin im Feuilleton.
Saul in dem Holocaust-Drama „Son of Saul“ ist seine erste Rolle. Er spielt sie intensiv. Undurchdringlich. Saul ist eine zusammengesetzte Figur, ein Mann ohne Eigenschaften, der für zweierlei steht: den Widerstand und die Moral des Glaubens. Er gehört dem Sonderkommando an, jener Gruppe von Juden, die in den Lagern zu Hilfsdiensten verpflichtet wurden - Sklaven, wie alle anderen auch, solange sie lebten, und sie lebten nicht sehr viel länger in der Regel als die, bei deren Ermordung sie helfen mussten. Ihre Privilegien waren klein, ein wenig mehr Bewegungsfreiheit, ein wenig mehr Essen, möglicherweise. Claude Lanzmann hat in „Shoah“ ihre Geschichte erzählt, mit einigen Überlebenden gesprochen, sie vom Vorwurf der Kollaboration befreit.
Wir entkommen dem Gesicht von Géza Röhrig nicht. Es schält sich zu Beginn aus der fast nebelhaften Unschärfe des ersten Bildes, und wenn der Fokus gezogen ist, bleibt die Kamera ganz nah bei diesem Mann. Saul ist unser Führer in Auschwitz-Birkenau. Es ist Oktober 1944, die Vernichtungsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Tausende werden täglich ermordet, es herrscht Chaos, und ein Aufstand wird auch vorbereitet, ein Aufstand der Angehörigen des Sonderkommandos, zu dem Saul gehört. Das Ereignis ist verbürgt, spielt hier aber nur eine Rolle am Rande. Als Idee sozusagen. Auch dies ist einer der wichtigen Erzählstränge aus „Shoah“ - dass die Juden nicht völlig wehrlos in ihren Untergang gingen. Hier ist der bewaffnete Aufstand eine Geschichte, die mit einer anderen kollidiert: dass Saul nämlich, während er die Leichen aus der Gaskammer schafft, ein Kind findet, das noch atmet, einige Züge lang, von dem er behauptet, es sei sein Sohn. Dieses Kind will er ordentlich, also mit Rabbi und Kaddisch-Sprechen, beerdigen. Die Suche nach dem Rabbi und die Rettung des Kinderleichnams, geschehen zur selben Zeit wie die Vorbereitung des Aufstands, und Saul scheint bei dem einen zu helfen, um beim anderen seinerseits Hilfe zu bekommen.
Der Feuerkreis um Ausschwitz
Der ungarische Regisseur des Films, László Nemes, hat erzählt, der Holocaust, dem einige Angehörige seiner Familie zum Opfer fielen, sei ein bestimmendes Thema seiner Kindheit und Jugend gewesen. Dennoch ist das Konstruktionsprinzip seines Films das eines Thrillers, dessen Personal gegen die Uhr antritt: Waffen besorgen, Leichnam entführen, nicht entdeckt werden, Aufgaben erfüllen. Eines Thrillers aus Auschwitz, in dem wir das, was Saul sieht und tut, immer nur am Rande vor Augen bekommen. Die Leichen. Die Ascheberge. „Son of Saul“ besteht aus vielen solchen Rändern. Während die Kamera auf Sauls Schulter sitzt oder an seinem Hinterkopf klebt, sehen wir in dem kleinen Ausschnitt, den wir überhaupt sehen, oft seinen unscharfen Hinterkopf und davor einen an den Seiten abgeschnittenen Raum voller hektischer Bewegung, oder wir schauen auf einen Teil eines Hügels aus Knochenpulver, das von Saul und den anderen in den Fluss geschaufelt wird, oder wir sehen im Hintergrund, wenn sich die Tür zur Gaskammer öffnet, übereinander gestürzte Körper. Der Film ist von Mátyás Erdély in dem alten, beinahe quadratischen 1,33:1-Format aus Stummfilmzeiten gedreht, immer aus der Hand, alles ist eng, nur im ganz nahen Bereich scharf.
Es ist die Aufgabe des Sonderkommandos, dessen Teil Saul ist, die Menschen direkt nach ihrer Ankunft im Lager in die Umkleidekabine zu führen, ihnen Haken für ihre Kleidung zuzuweisen und sie zur Tür vermeintlich zum Duschen zu begleiten, später ihre Leichen abzutransportieren und die Gaskammer zu reinigen. Nachdem sich die Tür hinter den Nackten geschlossen hat, müssen Saul und die anderen die Wertsachen aus den Mänteln fischen und die Koffer öffnen und plündern.