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Lukas Dhonts „Close“ im Kino : Verborgenes Verlangen

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Eden Dambrine (rechts) und Gustav De Waele in Lukas Dhonts Film „Close“. Bild: Pandora

Ein sehr zeitgemäßer Mythos vom Paradies, für einen Oscar nominiert: Lukas Dhont zeigt in in seinem Film „Close“ die Beziehung zweier dreizehnjähriger Jungen.

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          „Seid ihr zusammen?“ Diese Frage, gerichtet an die beiden Jungen Léo und Rémi, kann nett gemeint sein, sie kann einfach aus Interesse gestellt werden. Sie kann aber auch eine Gemeinheit sein. Denn Léo und Rémi sind eigentlich noch zu jung, um genau zu wissen, was ein Paar ist, was die Liebe sein könnte, was eine Beziehung ausmacht. Auf dem Schulhof fällt unweigerlich auf, dass sie sich gut verstehen.

          Beste Freunde sind sie auf jeden Fall, Nachbarn auch. Léo kommt von einem Hof, auf dem Mohn angebaut wird, Rémis Eltern haben in der Gegend ein schönes Haus, abgelegen und naturnah. Kein Paradies, aber doch eine Welt, in der zwei Jungen unbefangen groß werden können, und sich über das Besondere an ihrer Freundschaft keine Gedanken machen müssen. Das Besondere sieht man nämlich nur von außen.

          Von diesem Besonderen erzählt der Film „Close“ von Lukas Dhont, der diese Außenperspektive allerdings so wählt, dass sie zugleich den Projektionsspielraum deutlich macht, der sich immer öffnet, wenn man mit einem gewissen Interesse auf Menschen blickt. Dabei tut Dhont zuerst einmal nicht viel mehr, als genau hinzuschauen. Er zeigt die Geborgenheit, in der Léo und Rémi aufwachsen.

          Rémi spielt Oboe, er bereitet sich auf einen Auftritt vor, auf ein Solo, Léo ist selbstverständlich im Publikum. Seine eigene musikalische Begabung hält sich in Grenzen, aber für Eishockey als Freizeitbeschäftigung entscheidet er sich erst, nachdem er durch diese Frage verunsichert wurde: „Seid ihr zusammen?“ Zum ersten Mal sieht er sich und Rémi selbst von außen. Und damit ist das Band der Unschuld, das die beiden Jungen verbunden hat, zerrissen.

          Ziemlich beste Freunde

          Unschuld ist ein unpassendes Wort für das, wovon „Close“ zu erzählen versucht. Die Kindheit wird aber häufig so gesehen: ein Lebensalter vor dem „Sündenfall“ in das Begehren, vor den Wundern der Lust und der Verführung, ein Lebensalter noch ungestört von den Trieben, die sich dann in der Pubertät bemerkbar machen. Spätestens seit Freuds Untersuchungen zur frühkindlichen Sexualität wüsste man da vieles eigentlich besser, aber Kindheit ist seither eher noch stärker zu einem ideologischen Feld geworden, auf dem anthropologische Vorstellungen verhandelt werden.

          Dhont selbst hat 2018 mit seinem Film „Girl“ die Implikationen eines Geschlechterwechsels (einer Transition) im Alter von 16 Jahren durchgespielt – mit einer Balletttänzerin, die einmal ein Junge war, also in einer Welt, die extrem mit Geschlechterideen aufgeladen ist. Nun ist er spezialisiert auf Gender-Themen. In Cannes wurde „Close“ dementsprechend mit größtem Interesse erwartet.

          Der Film erzählt seine Geschichte im Grunde zweimal. Beide Dimensionen sind offensichtlich, die erste wird durch die zweite kommentiert. Die erste ist das Offensichtliche, das, was Léo und Rémi miteinander erleben, die täglichen Fahrten zur Schule mit dem Fahrrad, die Begegnungen mit anderen Kindern in der Schule, die einen Keil in ihre Freundschaft treiben, bis es schließlich zu einem dramatischen Ereignis kommt. Die zweite Ebene ist ebenfalls offensichtlich.

          Das Verlangen ist immer schon da

          Dhont hat die beiden Figuren besetzt, er hat Eden Dambrine und Gustav De Waele, zwei attraktive Jungen, gefunden, die nicht nur verkörpern, was er von Léo und Rémi erzählen will, sondern auch, was das Kino mit so einer Geschichte macht. Denn es sind ja nicht nur die Kinder auf dem Schulhof, die sich ein Bild von den beiden machen, die „Weicheier“ sehen, wo sie es mit Sensibilität zu tun haben. Das Kinopublikum, das erwachsene, wie man annehmen muss, sieht in den beiden jungen Schauspielern noch anderes; eigene Erlebnisse in der Kindheit werden vielleicht aufgerufen, es könnte auch jemand Dambrine und De Waele sogar verführerisch und sexuell attraktiv finden.

          In Österreich wird in diesen Tagen viel über den Fall des Schauspielers Florian Teichtmeister geredet, der wegen des Besitzes von vielen tausend kinderpornographischen Dateien vor Gericht muss. Nebenbei wurde bekannt, dass er bei Dreharbeiten auch Kinder am Set fotografiert und diese Bilder mit Texten, mit Sprechblasen, für sich in obszöne Phantasiemotive verwandelt hat. Das Gesetz hat für so etwas kein Verfahren, man sieht an diesem Beispiel aber sehr deutlich, dass das sexuelle Verlangen keine nackte Haut braucht, um zu erwachen. Es ist immer schon da, und Dhont weiß das sehr genau.

          Bei „Close“ kommt es also sehr darauf an, welche Funktion die auffällige Schönheit der beiden Hauptdarsteller hat. Sie macht zuerst einmal den Film attraktiver, sie hat aber eben auch eine dramaturgische Bedeutung: Léo und Rémi ragen aus der Schar der Kinder auf dem Schulhof heraus, sie entsprechen in vielerlei Hinsicht den Eigenschaften, die das Vorurteil mit Begriffen wie „Schwuchtel“ belegt, sie sind latent schwul oder queer (vielleicht nur für ein paar Monate) auf eine Weise, die eben genau die Grenze zwischen definierter Identität und allen Definitionen vorausliegender Unmittelbarkeit markiert, auf die Dhont hinauswill.

          Es wäre interessant, sich „Close“ mit zwei unscheinbareren Darstellern vorzustellen. Aber letztendlich würde das keinen Unterschied machen. Denn es geht zwar auch um Aspekte, die Homosexualität als eine Form des Geschlechterwechsels sehen (der Schwule als effeminierter Mann, ein alter Topos).

          Das ist allerdings nur die nächste Ebene nach der grundsätzlicheren, ob es eine Welt vor der Notwendigkeit gibt, sich selbst (als jemand Bestimmtes) zu verstehen. Lukas Dhont erzählt den vielleicht zeitgemäßesten Mythos vom Paradies, und wir können nun darüber nachdenken, wer darin Adam und wer Eva ist. Und wer die Schlange.

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