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„Pariser Affäre“ im Kino : Genießt die bleibende Zeit

Innig: Sandrine Kiberlain als Charlotte und Vincent Macaigne als Simon in „Tagebuch einer Pariser Affäre“ Bild: dpa

Emmanuel Mourets Film „Tagebuch einer Pariser Affäre“ erzählt von einer Liaison unter Erwachsenen. Sie wissen, dass die Liebe eine Falle ist. Trotzdem tappen sie hinein.

          3 Min.

          Sie treffen sich an einem Freitagabend am Ende des Winters. Zwei Unbekannte in einer Bar. Die Verabredung entstand auf einer Party, wo sie sich geküsst haben, und jetzt wollen sie einlösen, was sie hierher getrieben hat. Er sei verheiratet, sagt Simon, und er habe noch nie eine Affäre gehabt. Charlotte aber kommt sofort zur Sache: Sie wolle unbedingt mit ihm schlafen. Als er zurückzuckt und Angst be­kommt vor den Folgen ihres Tuns, beruhigt sie ihn: Etwas Festes komme für sie sowieso nicht infrage. „Wir werden keine Luftschlösser bauen.“ In ihrer Wohnung kocht sie Tee und legt eine CD von Ravi Shankar auf. Als er nach dem Sex fragt, ob er sie anrufen dürfe, ist sie eingeschlafen.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          „Chronique d’une liaison passagère“ heißt Emmanuel Mourets Film im Original. Der deutsche Verleihtitel „Tagebuch einer Pariser Affäre“ mildert die Chronik zum Diarium und betont dafür die Kulisse des Geschehens. Dabei könnte der Film in jeder größeren Stadt Frankreichs spielen, nur vielleicht in keinem anderen Land. Jedenfalls fällt einem keine andere Sprache ein, in der die Aufforderung zum Sex eleganter klingt: „Je ressens une envie irresistible de faire l’amour avec toi.“ Aber das entscheidende Wort des Originaltitels bleibt das Adjektiv. Das Passagere ist das, was vorübergeht. Die Melodie der Worte und der Rhythmus der Bilder sind im Film Vehikel für etwas anderes. Es geht um die Flüchtigkeit, das Fließen der Zeit. Da­für immerhin hat das Deutsche einen guten Ausdruck: Vergänglichkeit.

          Sie treffen sich wieder am 5., am 19., am 26. März und dann wöchentlich im April und Mai, im Museum, in einem Buchladen, beim Badminton, im Hotel, in der Wohnung eines Freundes. Er sei glücklich, das hier erleben zu dürfen, sagt Simon zu Charlotte, und dass er mit ei­nem Kollegen darüber geredet habe, wie unkompliziert ihre Beziehung sei. „Er wollte wissen, ob wir verliebt sind oder nicht“ – und in diesem Augenblick fährt die Kamera auf ihren Hinterkopf zu, während sie in der Kü­che hantiert, sodass ihr Gesicht verborgen bleibt; man hört nur ihr Schweigen. Kurz darauf besucht sie ihn unangekündigt in seiner Massagepraxis, wo er Geburtsvorbereitungskurse für Schwangere gibt. Er reagiert irritiert, sie ist ge­kränkt. Aber noch wirkt die gegenseitige Anziehung. Als Simons Frau verreist, fährt er mit Charlotte für ein Wo­chen­en­de aufs Land. Wiesen, Burgen, Schafe, ein Gewitter, eine Kirche. „Wir werden die Zeit genießen, die uns bleibt.“

          „Tagebuch einer Pariser Affäre“ ist der elfte Spielfilm des Regisseurs Mouret. Er muss nicht mehr entdeckt werden. Man muss nur aufhören, ihn zu übersehen. Seit zwanzig Jahren erzählt er mit zunehmendem Raffinement Ge­schichten über den Mechanismus der Gefühle und die Nebenwirkungen des Begehrens. Sein bisheriges Meisterwerk und der einzige Kostümfilm auf seiner Liste ist die Diderot-Adaption „Madame de Joncquières“ (auf Deutsch: „Der Preis der Versuchung“) von 2018, in der ein serieller Verführer von einem seiner Opfer blamiert und mit gesellschaftlicher Ächtung bestraft wird.

          Eine andere Erotik als im Mainstreamkino

          In „Tagebuch . . .“ aber gibt es die Gesellschaft, die das Paar verurteilen könnte, nicht mehr. Alles wird jetzt unter vier Au­gen ausgemacht, im Kreuzverhör der Intimität. Das ist eine Be­freiung und zugleich eine Last. Charlotte und Simon versuchen sie abzustreifen, indem sie eine dritte Person mit in ihr Spiel ziehen. Aber Louise, die sich auf ihr Onlineinserat meldet, ist alles andere als eine Schachfigur, sie bringt ihre eigenen Regeln mit. In dem Haus in der Vorstadt, in dem sie lebt, wird Simon zum störenden Dritten, während Charlotte ihre Chance ergreift. Drei Wo­chen später, als Simon von einem Sommerurlaub mit der Familie zurückkehrt, eröffnet sie ihm, dass sie Louise wiedergesehen hat. „Ich denke nur an sie und sie an mich.“ – „Ich freue mich für euch.“ Sie verabschieden sich an der Wohnungstür, und die Kamera zieht sich ins Nebenzimmer zurück wie vom Ort eines Verbrechens.

          Vielleicht sollte man erwähnen, dass es in „Tagebuch . . .“ keine einzige Nacktszene gibt und auch nichts von dem, was im Mainstreamkino Erotik heißt. Das Erotische liegt in der Tiefe, nicht an der Oberfläche der Bilder. Der zweite Unterschied zum gewöhnlichen Seitensprungdrama ist das Alter der Protagonisten. Sandrine Ki­ber­lain, die die Charlotte spielt, ist Anfang fünfzig, Vincent Macaigne, ihr Partner, Mitte vierzig. Das sieht man, und es gibt allem, was geschieht, ein anderes Gewicht. Die beiden haben das Glück, das die se­xu­elle Anziehung verspricht, schon er­lebt, und sie wissen, dass es verfliegt. Umso größer ist die Sehnsucht, es noch einmal festzuhalten, gegen alle Erfahrung und ge­gen die vergehende Zeit.

          Die tödliche Va­ri­an­te der Geschichte hat Nagisa Oshima vor fünfzig Jahren in „Im Reich der Sinne“ er­zählt; dort zerbrechen die Körper an der Lust, der sie keine Dauer geben können. Bei Emmanuel Mouret zerbricht niemand. Als sich Simon und Charlotte zwei Jahre später wiedertreffen – an einer Kinokasse! –, fließen ein paar Tränen, werden Vorwürfe („wir ha­ben alles falsch ge­macht“) und Trostworte gewechselt („ist es nicht ein Glück, traurig zu sein?“), doch am Ende vertragen sich die beiden, und er bringt sie zur Metro.

          Aber es bleibt ein Rest. Nur liegt er nicht in den Bildern, sondern im Auge des Be­trach­ters. Unsere Liaison, hat Simon zu Charlotte gesagt, war eine wie eine Klammer, die sich irgendwann wieder schließen musste. Der Vorsprung des französischen Ki­nos vor allen anderen liegt darin, dass es den Zuschauer in diese offene Klammer einbezieht. Der Dritte in dem Spiel, das Mouret mit der Filmkamera treibt, sind wir selbst. Und wir gewinnen jedes Mal.

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