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„Das melancholische Mädchen“ : Ich bin mein eigener Krieg

  • -Aktualisiert am

Wenn es in der Wohnung so aussieht wie in der Seele des Bewohners, sollte sie schnell davonlaufen: Marie Rathscheck als bedrängte Seele ohne Namen in „Das melancholische Mädchen“. Bild: Edition Salzgeber

Filme über Seelensorgen gibt es viele. „Das melancholische Mädchen“ von Susanne Heinrich aber sucht und findet die Sollbruchstelle zwischen Nöten im Kopf und Macken der Welt.

          3 Min.

          Der erste Satz des zweiten Kapitels – an diesem Punkt steckt eine junge Frau fest, die eigentlich Autorin ist, aber mit ihrem Allgemeinzustand so beschäftigt, dass sie nicht zum Schreiben kommt. Für den Allgemeinzustand gibt es verschiedene Formulierungen: „strukturelle Depression“, vielleicht sogar „Krieg“ („Mein Körper ist ein Kriegsgebiet“) oder – mit einem klassischen Wort – Melancholie. Die junge Frau in Susanne Heinrichs Film „Das melancholische Mädchen“ trägt vielleicht auch deswegen keinen Namen, weil es um die Frage geht, ob ihr Zustand eher individuell oder eher gesellschaftlich zu verstehen ist. Oder vielleicht sogar politisch. „Ich fange an, meine Depression als Politikum zu betrachten.“

          Die Regisseurin teilt offensichtlich diese Betrachtungsweise, lässt sie aber nicht als der Analyse letzten Schluss erscheinen. Das ergäbe nämlich einen Thesenfilm, und das ist „Das melancholische Mädchen“ gerade nicht. Im Gegenteil sind die vierzehn Episoden, in denen Marie Rathscheck in der Hauptrolle in den verschiedensten, immer in hohem Maß modellhaften Situationen zu sehen ist, so etwas wie ein Ringelspiel. Oder ein Parcours von einer Erfahrung zur anderen, ohne dass die Reflexion dabei ständig zunehmen würde. Die Orte wirken alle deutlich wie Sets, der Film ist in einem hohen Maß gebaut und gestaltet, er unterscheidet sich deutlich von einer alltagsrealistischen Ästhetik. Mit einer Assoziation zu einem Theaterklassiker könnte man von einem Puppenheim sprechen, nur ist das melancholische Mädchen keine Puppe.

          Menschen wie Automaten

          Eher schon wirken die Menschen, denen es begegnet, ein bisschen wie Automaten. „Meine Wohnung ist eher dekorativ als funktional“, sagt ein Mann, der früher viel Sex hatte, jetzt aber darauf verzichtet, stattdessen Tee und einen Film von Woody Allen vorschlägt. Das klingt zwar ein bisschen spießig, eröffnet aber immerhin eine Möglichkeit, „sich abseits der Märkte zu begegnen“.

          Zu Beginn dieses Jahres hatte „Das melancholische Mädchen“ beim Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken Premiere und wurde dort schließlich als „bester Spielfilm“ ausgezeichnet. Das war eine überraschende Entscheidung, hat aber vielleicht etwas mit dem entwaffnenden Erfindungsreichtum zu tun, mit dem Susanne Heinrich ihre Low-Budget-Arbeit bestreitet. Sie stammt aus Leipzig und hat vor ihrem Filmstudium an der DFFB in Berlin als Schriftstellerin begonnen. „So, jetzt sind wir alle mal glücklich“ hieß 2009 ihr zweiter Roman. Man kann diesem Titel entnehmen, dass die Themen ihres ersten Films sie schon länger beschäftigen.

          In den konventionellen Genres ist das Glück eine Sache der richtigen Wahl – und ebendes Glücks, dass eine junge Frau den richtigen Mann auch treffen muss, um ihn wählen zu können. Von einer Romcom ist „Das melancholische Mädchen“ denkbar weit entfernt, nicht jedoch von den Glücksverständnissen, die so durch die Gesellschaft schwirren. Die werden gründlich durchgearbeitet: Selbstverwirklichung durch Nachwuchs, durch Yoga, durch Kunst, durch Musik, durch Lust.

          Jede der vierzehn Episoden spielt in einem markanten Raum. An einer Stelle ist es ausdrücklich ein Kunstraum (die Galerie König in Berlin-Kreuzberg), und die abstrakt-biomorphen Arbeiten von Jorinde Voigt passen ganz hervorragend zu der Studio-Ästhetik von Susanne Heinrich. Viel Arbeit ging in die Ausstattung und in die Kostüme, wenngleich die Titelfigur sich da auch ausnimmt, denn sie trägt die meiste Zeit einen Mantel und Stiefel, mit denen sie bei einem Model-Casting, wo sie zwischendurch auch anzutreffen ist, wenig ausrichtet. Die Männer, bei denen das melancholische Mädchen die Nächte verbringt, haben ihre Buden aber so richtig auf Erkennungsmerkmale ihrer Individualität hin gestylt. Da hängen dann Gitarren oder Fußball-Jerseys so an der Wand, dass die Unterscheidung zwischen dekorativ und funktional sich erübrigt. Einer hat sogar ein Kunstwerk, das dem melancholischen Mädchen wie eine Begrüßung vorkommen könnte: CRISIS steht da an der Wand, das erste I ist eigentlich ein Y und sieht aus wie ein Cocktailglas: „Cry, Sis.“

          Weinen wäre eine Reaktion, die psychologisch vielleicht nahezuliegen schiene (Hysterie als Ausweg), die sich aber vom Anspruch dieses Films her verbietet. Susanne Heinrich steht für einen theoretisch inspirierten Feminismus (an einer Stelle wird aus dem bekannten Buch vom Jungen-Mädchen vorgelesen: der Merve-Klassiker „Tiqqun“), wendet ihre Reflexionen aber mit ihrem Film ins Experimentelle. Der große Durchblick, den namhafte Texte manchmal zu vermitteln scheinen, verliert sich auf den Stationen der Geschichte und weicht einem spannenden Selbstverhältnis: Wenn man von sich als einem Symptom (des neoliberalen Kapitalismus?) denken müsste, wie könnte man dann überhaupt weiter lieben, Sex haben und sich die Freiheit nehmen, einen Orgasmus vielleicht zu erleben, den man dem Partner nur vorgespielt hat? „Das melancholische Mädchen“ entscheidet sich in allen konkreten Angelegenheiten für die Spannung, die Theoreme nicht der Figur aufzuladen, sondern sie aus ihr heraus zu entwickeln.

          Der Film bleibt dabei immer noch ein Spiel mit Versatzstücken, aber er setzt sich damit gerade als Spiel über die bloße Veranschaulichung intellektueller Positionen hinweg.

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