Polanskis „J’accuse“ in Venedig : Mehr Mut als Moral
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Vor dem Gesetz: Jean Dujardin als Marie-Georges Picquart in Roman Polanskis Film „J’accuse“, der in Venedig im Wettbewerb Premiere hatte Bild: Venice International Film Festival
Roman Polanski hält sich natürlich nicht für Alfred Dreyfus. Dass sein Film „J’accuse“ im Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig läuft, sorgte dennoch vorübergehend für Irritationen.
Nachts legen sie den Gefangenen in Eisen, dass er sich nicht mal auf der Teufelsinsel frei bewegen kann, auf die man ihn verbannt hat. Vorher hat man uns gezeigt, wie er entehrt wurde, wie man seinen Säbel zerbrach und ihn wegen Hochverrats aus der Armee warf. Mächtige Interessen, religiöse Ressentiments und militärischer Karrierismus haben sich miteinander verschworen, um diesen jüdischen Offizier Alfred Dreyfus zu Fall zu bringen. Wenn er bei der Urteilszeremonie die Kiefer aufeinanderpresst und die Tränen zurückzwingt, hart wie Glas, intensiv wie Metallglut, hat man mit dem Schauspieler Louis Garrel, der ihn in Roman Polanskis „J’accuse“ spielt, nicht bloß billig Mitleid, sondern teilt seine ohnmächtige Wut.
Polanski macht aus der historischen Dreyfus-Figur, die von Zola in einem Zeitungsartikel, der dem Film den Titel leiht, verteidigt wurde, weder einen Helden (dazu ist er zu wenig) noch ein Opfer (der Film zeigt ihn angefochten, aber nie gebrochen). Einen Helden gibt’s in dem Film allerdings auch, den Berufssoldaten Picquart, der persönlich kein Freund der Juden ist, sein Gewissen aber nicht ignorieren kann, als ihm die Wahrheit des Justizskandals aufgeht – den Augenblick, da ihm ein Handschriftenfund den Skandal offenbart, spielt Jean Dujardin als puren Schrecken, als würde ihm mit der Unschuld eines anderen zugleich eine monströse eigene Schuld bewusst.
Polanskis Regie greift hier, wie in anderen brillanten Szenen, bewusst und klug lieber in die Suspense- als in die Historienkiste. Die politischen Absichten, die das Resultat erkennen lässt, sind zweifellos ehrenwert: Als Zolas Bücher und Zeitungen brennen, als Verhetzte den Davidstern auf eine Buchhandlung schmieren, wird deutlich, wovon die Geschichte eigentlich handelt – vom Sündenbockterror, von Unrecht nicht allein im militärischen oder politischen Apparat, sondern im Gesellschaftsganzen.
Der Ausbeutungscharakter dieser Auffassung von Kunst
Hat der Regisseur außer politischen aber vielleicht noch andere Absichten gehabt, persönlich-psychologische, als er den Stoff wählte? Es gibt einen juristischen Fall „Roman Polanski“. Der Künstler hat vor langer Zeit ein Sexualdelikt begangen. Die damals Minderjährige, um die es geht, hat inzwischen erklärt, dass sie keine Rachewünsche hege. Aber die Sache ist nicht abgeschlossen, Polanski wurde von Teilen der Filmwelt aus Institutionen geworfen, und man mag vermuten, dass er der Ansicht ist, er werde von mächtigen Interessen, von Ressentiments, falscher Loyalität zu juristischen Institutionen, feministischem Fanatismus und journalistischem Karrierismus verfolgt.
Für Alfred Dreyfus hält er sich nicht; er ist ja nicht verrückt. Dass „J’accuse“ am Wettbewerb des Festivals in Venedig teilnimmt, schafft Kontroversen. Die Festivalleitung hat durchblicken lassen, sie wolle die Person des Künstlers vom Werk trennen. Die Jury mag das anders sehen. Vielleicht aber geht es in dieser Lage gar nicht darum, Werk und Person zu trennen, sondern darum, einen Kunstbegriff zu überwinden, in dem Menschen Rohmaterial sind, an dem Künstlerinnen oder Künstler ihre Erfahrungen gewinnen, um diesen dann irgendeine Kunstform aufzuprägen.
Heute, da dank allerlei Medien (nicht nur solchen der Kunst) mehr Menschen mit mehr Menschen zu tun haben als je, ist der Ausbeutungscharakter dieser Auffassung von Kunst offenbar geworden, und unerträglich. Eine neue muss her, in der das Rohmaterial die Kunstformen selbst sind, die von Begegnungen zwischen Kunstschaffenden und anderen mit sozialem und emotionalem Inhalt aufgeladen werden können. Menschen sind Ereignisse, nicht Sachen. Wenn wir versäumen, das zu lernen, werden Spätere nicht nur unsere Filme verachten.