Filmfest Cannes : Der Himmel über Tokio
- -Aktualisiert am
Sucht das Glück in kleinen Dingen: Koji Yakusho als Hirayama in „Perfect Days“ Bild: dpa
Wim Wenders ist mit zwei neuen Filmen in Cannes: im Spielfilm „Perfect Days“ sucht ein Mann das Glück in Tokio und der Dokumentarfilm „Anselm“ folgt dem Maler Anselm Kiefer.
Wir müssen uns Hirayama als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sein Leben in Tokio folgt strenger Routine. Geweckt von der Morgensonne rollt er sein Bett ordentlich in die Ecke einer kleinen Maisonettewohnung und vollführt die Morgentoilette vor einem schmalen Spiegel, der nicht einmal sein ganzes Gesicht zeigt. Dann benetzt er kleine Ahornsetzlinge mit Wassernebel. Ein Lächeln huscht dabei über sein Gesicht. Es wird sich während des Tages immer wieder in seinen Augen finden, obwohl man der falschen Annahme erliegen könnte, dass es in seinem Leben wenig gibt, über das man froh sein könnte. Hirayamas Miene tritt den Gegenbeweis an, wenn die Kassette in seinem Auto „House of the Rising Sun“ spielt, während er im Morgengrauen durch Tokio fährt, wenn er vor den öffentlichen Toiletten, die er reinigen soll, kurz warten muss, weil jemand dringend eine Kabine benutzen will, wenn bei diesem Warten der Wind durch die Blätter der Bäume fährt und Schattenmuster an die Betonwände wirft. Und er lächelt, als er hinter einem WC-Spiegel einen Zettel mit einem Kreis im Drei-Gewinnt-Gitter findet und ein Kreuz hinzufügt. Er will nicht mit der unbekannten Person in Kontakt treten, er ist nicht einsam. Ihm geht es allein um die Geste, um das Zutrauen zum Zwischenmenschlichen.
Hirayama verliert bei all dem nicht viele Worte, ja: Er antwortet auf die Fragen seines Kollegen nur mit einem Kopfnicken. Seine Putzarbeit verrichtet er als buddhistische Meditationsübung. Wim Wenders‘ Film „Perfect Days“ (dessen titelgebenden Lou-Reed-Song wir einmal hören, während Wolkenkratzer am Autofenster vorbeiziehen) unterbricht den ruhigen Erzählfluss nur, wenn Hirayama zu Bett geht. Dann huschen in grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen Erinnerungen vorbei, Zeilen aus dem Faulkner-Buch, das der Protagonist vor dem Einschlafen liest, Umrisse der Ahornblätter, die er liebevoll hegt, das Gesicht seiner Nichte, die eines Tages nach einem Streit mit ihrer Mutter auf seiner Türschwelle sitzt.
Ihr Auftauchen wird die eingeübte Routine kurz auf den Kopf stellen. Dann aber bittet sie ihren Onkel, sie mit auf seine Arbeit zu nehmen und versteht langsam, warum er mit ihrer Mutter nicht mehr auskommt. Die Geschwister haben sich für unterschiedliche Leben, unterschiedliche Welten entschieden, wird Hirayama der Nichte auf einer Radtour durch Tokio erklären. Und viel mehr sagt er dazu auch nicht. Ihm genügt sein Leben, wie er es sich eingerichtet hat. Der Nichte gibt er den Rat, im Augenblick zu leben: „Jetzt ist jetzt“.
Wenders‘ Glück ist Kōji Yakusho. Er spielt den wortkargen Hirayama mit ausdrucksstarken Augen, in denen man Momente kurzer Freude sogar hineinhuschen sieht, wenn der Rest des Gesichts beim Untertauchen im öffentlichen Onzenbecken unter der Wasserfläche verschwindet. Yakusho kann genauso schnell Tränen fließen lassen, wenn die Emotionen den Toilettenreiniger überkommen, nachdem seine Schwester ihn besucht hat. Hirayama hat sich gegen Reichtum und für das Glück der kleinen Dinge entschieden, wie man es nur in einem modernen Märchen von Wim Wenders findet.
„Perfect Days“ ist seit sechs Jahren der erste Spielfilm des Regisseurs. Und da, wie er in einem Interview sagte, dieser Film in kurzer Zeit umgesetzt werden konnte, stellte er fast zeitgleich noch einen weiteren Film fertig, der nun ebenfalls in Cannes Premiere feierte, wenn auch im Gegensatz zu „Perfect Days“ nicht im Wettbewerb. Der Dokumentarfilm „Anselm“ spürt dem Schaffen des Malers Anselm Kiefer nach unter Nutzung von 3D-Filmtechnik.
So umkreist die Kamera zu Beginn Skulpturen, auf denen weiße Kleider in steifen Falten liegen, dahinter knorrige Obstbäume einer gezähmten Gartenlandschaft. Dann fährt der Maler mit einem Fahrrad durch die langen Hallen seiner Fertigungsstätten, passiert Regale mit Textilien, alten Schläuchen, Kisten mit Stroh. Die Kamera fliegt völlig entfesselt aller physischen Realität in die Bilder des Künstlers hinein, macht aus ihnen Dioramen, erweckt sie zum Leben. Sonst hält sich die technische Spielerei zurück, nur eine Szene am Schluss zeigt noch einmal, warum man die 3D-Brille im Kino trägt.
Den roten Faden der Erzählung bildet ein Abschreiten der Wirkungsstätten Kiefers, sie ordnen seine Schaffensphasen Schauplätzen zu, die Wenders noch einmal besucht oder nachgebildet hat. Wie schon bei seinen früheren Künstlerporträts „Buena Vista Social Club“ (1999) über kubanische Musiker oder „Pina“ (2011) über die Tänzerin Pina Bausch konzentriert sich Wenders auf das Werk, biografische Details fügen sich nur ein, wenn sie relevant für die Kunst sind (etwa Kiefers Meisterschülerschaft bei Joseph Beuys). Mehr Raum nehmen die Themen und Werke ein, an denen Kiefer sich abgearbeitet hat. So zeigt Wenders das Ringen mit Martin Heideggers Schriften, lässt Ingeborg Bachmann zu Wort kommen und Paul Celan in einem Originalmitschnitt seine „Todesfuge“ vorlesen, auf die Kiefer in seinen Bildern mit wörtlichen Zitaten der Verszeilen Bezug nimmt, und manchmal wird es arg fromm und affirmativ dabei. Die Privatperson Kiefer aber interessiert den Regisseur weniger, was in einer Zeit, in der alle versessen auf private Details und Einblicke sind, allemal wohltuend ist.