Dokumentarfilm-Retrospektive : Blühende Dokumente
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Die Kunst geht an die Welt oft mit leeren Händen heran, aber wenn sie bereit ist, sich schmutzig zu machen, gräbt sie Wahres aus: Szene aus „Wild Plants“ Bild: Foto Real Fiction
Wie man mit Kino die Welt erweitert: Das Münchner Filmmuseum stellt die Filmschaffenden um den Schweizer Nicolas Humbert in einer kostenlos gestreamten Retrospektive vor.
Über das geheime Leben der Pflanzen gab es in den letzten Jahren viel zu hören und zu lesen. Selten allerdings ging bei diesen Überlegungen jemand einmal so weit wie der Schweizer Dokumentarfilmer Nicolas Humbert, der in „Wild Plants“ (2016) anklingen lässt, dass es eigentlich die Menschen sind, die das geheime Leben der Pflanzen führen. Als vegetative Wesen, die sich grundlegend missverstehen, wenn sie sich für etwas Besseres als den Birnenbaum oder die ordinäre straßenseitige Malve halten. In „Wild Plants“ geht ein Mann durch Zürich und lässt seinen „Pakt mit den Pflanzen“ auf eine Weise praktisch werden, die den Stadtreinigern möglichst nicht auffallen soll. Dass jemand die unscheinbaren Orte, die Säume neben dem Asphalt oder das widerborstige Grün zwischen Funktionsarchitektur, als einen Garten begreift, das hat mit der Überzeugung zu tun, von der alle Protagonisten in Humberts Film bestimmt sind: „We are plants, too“.
So direkt sagt es ein Mann aus einem Volk, das einstmals sehr viel Natur fast für sich allein hatte: Milo Yellow Hair vom Stamm der Oglala aus Pine Ridge in South Dakota, wo sich eines der wichtigsten Reservate für Nachfahren der nordamerikanischen Ureinwohner befindet. Mit dem bedeutenden Vertreter der indigenen Gruppen in den Vereinigten Staaten hatte Humbert – gemeinsam mit Simone Fürbringer – 2009 schon einen eigenen Film gemacht: „I am a Crow“ ist, wie auch „Wild Plants“, dieser Tage in einer Retrospektive des Filmmuseums München zu sehen, die auf dem hauseigenen Vimeo-Kanal online stattfindet und bundesweit kostenlos zugänglich ist: „Nicolas Humbert & Friends“ macht mit einer Gruppe befreundeter Menschen bekannt, die das Filmemachen als Teil einer Praxis des Unterwegsseins begreifen. Nicolas Humbert, Simone Fürbringer, Werner Penzel, Martin Otter bilden einen losen deutsch-schweizerischen Verbund, der inzwischen, seit Penzel 2009 nach Japan übersiedelte, die halbe Welt umspannt.
München ist der Bezugs- und Ausgangspunkt, weil Humbert und Penzel in den achtziger Jahren an der Hochschule für Film und Fernsehen studiert haben. 1990 kam dann der Film heraus, der bis heute ihr bekanntester geblieben ist: „Step Across the Border“, ein Porträt- und Tourneefilm mit dem Musiker Fred Frith.
Für die schrägen Töne des britischen Multiinstrumentalisten fanden die Filmemacher eine kongeniale Form, sie sprachen von einer „Zelluloid-Improvisation“, und reagierten damit auf die vielen unerwarteten Wendungen in den Stücken von Frith. „Step Across the Border“ wurde zu einem Hit in den Programmkinos und ermöglichte dem Duo Humbert und Penzel bald darauf, ihre Vorstellungen von einem „anderen Blick“ (so benannten sie 1985 eine Filmemacher-Kooperative, aus der die Firma „CineNomad“ hervorging) mit einer Reise in die Sahara konkret zu machen: „Middle of the Moment“ (1995) verbindet Bilder von Tuareg-Stämmen mit dem Alltag eines Zirkusunternehmens in Europa und mit dem Dichter Robert Lax, der einer der Helden von Humbert und Penzel ist.
Wenn man „Middle of the Moment“ heute wiedersieht, spürt man deutlich auch, wie sehr sich der Blick auf die Welt seither verändert hat. Damals war es gerade die Romantik des Fremden, die so anziehend wirkte, das einfache Leben der Menschen in und mit der Wüste strahlte auf die fahrenden Leute vom Zirkus ab und bekam durch einen Aussteiger wie Robert Lax eine Dimension von Nobilität. Dass junge Menschen aus Mitteleuropa mit der Kamera die ganze Welt erschließen konnten und dabei kulturelle Montagen vornahmen, die auf eine Exotisierung auch des eigenen Lebens (und für das Publikum) hinauslief, würde man heute, da sich mit den weltweiten Kommunikationsnetzwerken auch die Blickhierarchien verändert haben, nicht mehr ganz so selbstverständlich nehmen wie 1995.