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Film gegen die Todesstrafe : Der Teufel hat nichts damit zu tun

Das Bad im Fluss kann den Henker nicht von seiner Tat reinigen: Szene aus Mohammad Rasoulofs Film Bild: Picture Alliance

Mohammad Rasoulofs Film „Doch das Böse gibt es nicht“ erzählt von Menschen in Iran, die sich entscheiden müssen, ob sie dem Regime als Henker dienen oder nicht. Der Film fällt kein Urteil über sie. Darin liegt seine künstlerische und moralische Größe.

          5 Min.

          Vier Geschichten. Die erste beginnt in ei­nem Parkhaus. Zwei Männer tragen ei­ne schwere Last zu einem Au­to; wie sich spä­ter herausstellt, ist es ein Sack Reis. Der Empfänger der Reisration, ein kleiner, bärtiger Mann, fährt aus dem Teheraner Gefängnis, in dem er arbeitet, nach Hause. Er holt seine Frau, eine Lehrerin, von der Arbeit und seine Tochter von der Schule ab. Sie gehen ein­kau­fen, versorgen die Groß­mut­ter, essen in einer Pizzeria. Ein Mit­tel­stands­leben. Doch um drei Uhr morgens klingelt der Wecker. Der Bärtige steht auf und fährt an seinen Arbeitsplatz. Dort wartet er, bis auf einer Schalttafel fünf grü­ne Lampen aufleuchten, dann drückt er einen Knopf. In einem Raum ne­ben­an fallen fünf Körper ins Lee­re. Die Bei­ne in den Hosen zucken, die Blasen entleeren sich im To­des­kampf, dann hängen die Körper still.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          In der zweiten Geschichte liegen sechs Soldaten auf Pritschen in einem Zimmer. Einer gibt keine Ruhe. Er könne keinen Menschen töten, ruft Pouya im­mer wieder, aber weil es ein Uhr nachts ist, stößt er bei seinen Kameraden auf wenig Verständnis. „Wir sind hier nicht bei Mutti“, sagt einer, und ein anderer: „Es ist das Ge­setz.“ Ein dritter bietet ihm an, den Job zu übernehmen – für fünfzig Millionen Toman. Der vierte droht Pouya mit De­nun­zia­tion, der fünfte steckt ihm ei­n Papier zu. Dann beginnt die Hinrichtung. Pouya und ein Wachsoldat begleiten den Verurteilten zum Henkersraum. Auf dem Weg wird Pouya übel. In der Toilette liest er den zugesteckten Zettel. Draußen entreißt er dem Wachmann die Waffe und fes­selt ihn an den Gefangenen, danach überwältigt er die Torwachen und flieht ins Freie. In einem Hinterhof wartet ein Auto auf ihn. Pouyas Freundin sitzt am Steuer, sie fahren durch die Nacht, und im Radio singt Milva das alte Partisanenlied „Bella ciao“. In einem Steinbruch wirft Pouya die Waffe weg. Unten flimmern die Lichter der Stadt.

          Der Regisseur steht seit Jahren im Fadenkreuz der Zensur

          Gegen das politische Kino gibt es ein langlebiges Vorurteil. Es sei unfilmisch, heißt es, seine Bilder bloß Beweismittel, seine Charaktere Puppen, seine Erzählung ein Korsett. Dieser Film beweist das Gegenteil. In vier Anläufen kreist er eine Frage ein, die an den Kern des Menschseins rührt, und wenn er nach zweieinhalb Stunden endet, steht sie im­mer noch im Raum. Aber wir haben vier Möglichkeiten gesehen, wie man sie be­ant­wor­ten kann, vier Leben, die von dieser Antwort unwiderruflich geprägt sind. Jedes dieser Leben steht für viele andere, und doch ist keines nur ein Platzhalter. Der Mann, der den Knopf drückt, ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, so wie der Soldat Pouya und die beiden anderen Män­ner, von denen Mo­ham­mad Rasoulof in „Doch das Böse gibt es nicht“ erzählt – sie diskutieren nicht, sie handeln, und durch ihr Tun wird die Frage des Films für sie zur Schicksalsfrage.

          Filmtrailer : „Doch das Böse gibt es nicht"

          Die Frage lautet, ob man auf Befehl tö­ten darf: nicht im Krieg oder in Notwehr, sondern als Werkzeug eines Justizapparats, als Henker. Dass der Film, der sie stellt, aus dem Iran kommt, überrascht kaum, denn das dortige Kino ist aus verschiedenen Gründen – zu denen die Bilderfreundlichkeit des Schiitismus ge­hört, das hohe Ni­veau der iranischen Film­schu­len, die be­son­de­re Situation des Landes als Kampfplatz zwischen islamischer Tradition und großstädtischer Mo­der­ne – eines der spannendsten der Welt. Erstaunlich ist eher, dass es diesen Film überhaupt gibt. Denn sein Regisseur steht seit vielen Jahren im Fadenkreuz der Zensur.

          Dreharbeiten undercover

          Im März 2010 wurde Mohammad Rasoulof erstmals we­gen unerlaubter Re­gie­tä­tig­keit verhaftet, gemeinsam mit seinem Kollegen Jafar Pa­na­hi, mit dem er ei­ne Dokumentation über die Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen des Vorjahres plante. Die sechs­jährige Gefängnisstrafe, die ein Revolutionsgericht über Rasoulof verhängte, wurde zwar nie vollstreckt, aber als er 2017 aus Hamburg nach Te­he­ran zurückkehrte, zogen die Behörden seinen Pass ein. Im Juli 2019, mitten in den Dreharbeiten zu „Doch das Böse gibt es nicht“, wurde er wegen „Propaganda ge­gen das System“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ra­sou­lof legte Berufung ein, doch im März letzten Jahres bestätigte ein anderes Ge­richt das Urteil. Inzwischen hatte „Doch das Böse gibt es nicht“ auf der Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Als Reaktion wurde die Strafe um ein zweijähriges Berufsverbot erweitert.

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