Film gegen die Todesstrafe : Der Teufel hat nichts damit zu tun
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Das Bad im Fluss kann den Henker nicht von seiner Tat reinigen: Szene aus Mohammad Rasoulofs Film Bild: Picture Alliance
Mohammad Rasoulofs Film „Doch das Böse gibt es nicht“ erzählt von Menschen in Iran, die sich entscheiden müssen, ob sie dem Regime als Henker dienen oder nicht. Der Film fällt kein Urteil über sie. Darin liegt seine künstlerische und moralische Größe.
Vier Geschichten. Die erste beginnt in einem Parkhaus. Zwei Männer tragen eine schwere Last zu einem Auto; wie sich später herausstellt, ist es ein Sack Reis. Der Empfänger der Reisration, ein kleiner, bärtiger Mann, fährt aus dem Teheraner Gefängnis, in dem er arbeitet, nach Hause. Er holt seine Frau, eine Lehrerin, von der Arbeit und seine Tochter von der Schule ab. Sie gehen einkaufen, versorgen die Großmutter, essen in einer Pizzeria. Ein Mittelstandsleben. Doch um drei Uhr morgens klingelt der Wecker. Der Bärtige steht auf und fährt an seinen Arbeitsplatz. Dort wartet er, bis auf einer Schalttafel fünf grüne Lampen aufleuchten, dann drückt er einen Knopf. In einem Raum nebenan fallen fünf Körper ins Leere. Die Beine in den Hosen zucken, die Blasen entleeren sich im Todeskampf, dann hängen die Körper still.
In der zweiten Geschichte liegen sechs Soldaten auf Pritschen in einem Zimmer. Einer gibt keine Ruhe. Er könne keinen Menschen töten, ruft Pouya immer wieder, aber weil es ein Uhr nachts ist, stößt er bei seinen Kameraden auf wenig Verständnis. „Wir sind hier nicht bei Mutti“, sagt einer, und ein anderer: „Es ist das Gesetz.“ Ein dritter bietet ihm an, den Job zu übernehmen – für fünfzig Millionen Toman. Der vierte droht Pouya mit Denunziation, der fünfte steckt ihm ein Papier zu. Dann beginnt die Hinrichtung. Pouya und ein Wachsoldat begleiten den Verurteilten zum Henkersraum. Auf dem Weg wird Pouya übel. In der Toilette liest er den zugesteckten Zettel. Draußen entreißt er dem Wachmann die Waffe und fesselt ihn an den Gefangenen, danach überwältigt er die Torwachen und flieht ins Freie. In einem Hinterhof wartet ein Auto auf ihn. Pouyas Freundin sitzt am Steuer, sie fahren durch die Nacht, und im Radio singt Milva das alte Partisanenlied „Bella ciao“. In einem Steinbruch wirft Pouya die Waffe weg. Unten flimmern die Lichter der Stadt.
Der Regisseur steht seit Jahren im Fadenkreuz der Zensur
Gegen das politische Kino gibt es ein langlebiges Vorurteil. Es sei unfilmisch, heißt es, seine Bilder bloß Beweismittel, seine Charaktere Puppen, seine Erzählung ein Korsett. Dieser Film beweist das Gegenteil. In vier Anläufen kreist er eine Frage ein, die an den Kern des Menschseins rührt, und wenn er nach zweieinhalb Stunden endet, steht sie immer noch im Raum. Aber wir haben vier Möglichkeiten gesehen, wie man sie beantworten kann, vier Leben, die von dieser Antwort unwiderruflich geprägt sind. Jedes dieser Leben steht für viele andere, und doch ist keines nur ein Platzhalter. Der Mann, der den Knopf drückt, ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, so wie der Soldat Pouya und die beiden anderen Männer, von denen Mohammad Rasoulof in „Doch das Böse gibt es nicht“ erzählt – sie diskutieren nicht, sie handeln, und durch ihr Tun wird die Frage des Films für sie zur Schicksalsfrage.
Filmtrailer : „Doch das Böse gibt es nicht"
Die Frage lautet, ob man auf Befehl töten darf: nicht im Krieg oder in Notwehr, sondern als Werkzeug eines Justizapparats, als Henker. Dass der Film, der sie stellt, aus dem Iran kommt, überrascht kaum, denn das dortige Kino ist aus verschiedenen Gründen – zu denen die Bilderfreundlichkeit des Schiitismus gehört, das hohe Niveau der iranischen Filmschulen, die besondere Situation des Landes als Kampfplatz zwischen islamischer Tradition und großstädtischer Moderne – eines der spannendsten der Welt. Erstaunlich ist eher, dass es diesen Film überhaupt gibt. Denn sein Regisseur steht seit vielen Jahren im Fadenkreuz der Zensur.
Dreharbeiten undercover
Im März 2010 wurde Mohammad Rasoulof erstmals wegen unerlaubter Regietätigkeit verhaftet, gemeinsam mit seinem Kollegen Jafar Panahi, mit dem er eine Dokumentation über die Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen des Vorjahres plante. Die sechsjährige Gefängnisstrafe, die ein Revolutionsgericht über Rasoulof verhängte, wurde zwar nie vollstreckt, aber als er 2017 aus Hamburg nach Teheran zurückkehrte, zogen die Behörden seinen Pass ein. Im Juli 2019, mitten in den Dreharbeiten zu „Doch das Böse gibt es nicht“, wurde er wegen „Propaganda gegen das System“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Rasoulof legte Berufung ein, doch im März letzten Jahres bestätigte ein anderes Gericht das Urteil. Inzwischen hatte „Doch das Böse gibt es nicht“ auf der Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Als Reaktion wurde die Strafe um ein zweijähriges Berufsverbot erweitert.