Moderne Zeiten : Warum wir Chaplin noch brauchen
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Dem Schicksal ein Lächeln zeigen: Chaplin und Paulette Godard in „Moderne Zeiten” Bild: AP
Der modernste Film der Saison ist fast siebzig Jahre alt: Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ läuft wieder in den Kinos. Der Film zeigt, daß man durch Unschuld, nicht Berechnung zum Führer einer sozialen Bewegung wird.
Was bringt Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ jetzt wieder in deutsche Kinos? Ist es, fast siebzig Jahre nach der Erstaufführung des Films, die Wiederholung einer Epoche, in der die Debatte um Kapitalismus, Rationalisierung und Verarmung ein Land an den Rand des intellektuellen Bankrotts treibt? Oder können wir uns damit begnügen, daß ein engagierter kleiner Verleih ganz ohne Hintergedanken ein Meisterwerk für eine neue Generation von Zuschauern noch einmal auf die große Leinwand holen möchte?

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Also fragen wir anders: Was bringt uns „Moderne Zeiten“ heute im deutschen Kino? Eine Parabel auf das individuelle Schicksal in der ökonomischen Krise und die euphemistische Schlußpointe, daß es gilt, dem Schicksal nicht die Zähne, sondern ein Lächeln zu zeigen. Der von Chaplin gespielte Fabrikarbeiter hat sich im Laufe von anderthalb Stunden als freundlicher als die Freundlichsten und als zäher als die Zähesten erwiesen, und er ist ein ehrlicher Mann dabei geblieben. Das aber ist eine Lehre, die besser in die Zeit von Roosevelt II als in die von Hartz IV zu passen scheint.
Spezialisierung und Monotonie
Die Werkhalle des ominösen Unternehmens Electric Steel, in der Chaplin zu Beginn des Films seinen berühmten Fließbandeinsatz inszeniert, ist angefüllt mit Arbeitern, die im Sinne der tayloristischen Betriebsführung auf den höchsten Grad der Spezialisierung und damit Monotonie hingetrimmt werden. Doch die Muttern, die Chaplin im Akkord festziehen muß, haben noch etwas Mütterliches, und der Firmenchef pflegt durch sein Videoüberwachungssystem ein paternalistisches Führungsmodell, das in bösen Blicken und erhobenem Zeigefinger seine schlimmsten Sanktionen hat.
Heute stehen solche Hallen leer, denn die Handarbeit obliegt nicht einmal mehr Robotern, sondern dem preisgünstigeren Ausland. Und wie sollte ein amerikanischer oder deutscher Unternehmer seine Stimme noch auf Hindi oder Mandarin erheben, ohne sich dabei vor der Belegschaft lächerlich zu machen?
Durch Unschuld zum Führer
Deshalb ist es auch nicht das ikonische Bild vom Arbeiter im Räderwerk des Kapitalismus, das „Moderne Zeiten“ heute noch bemerkenswert macht, sondern jene grandiose Szene, in welcher der stets hilfsbereite Fabrikarbeiter einen von einem Lastwagen gefallenen roten Wimpel aufhebt - und hinter dem verzweifelt dem Lastwagen nachwinkenden Chaplin plötzlich eine Demonstration um die Ecke biegt und den Unbedarften fest in ihre Reihen schließt.
Durch Unschuld, nicht Berechnung wird man zum Führer einer sozialen Bewegung, und Müntefering, Gysi und Lafontaine könnten sich ein Beispiel daran nehmen, wenn sie nun selbst verzweifelt mit den roten Fahnen wedeln. Aber hinter ihnen kommt niemand mehr, denn die Basis ist ihnen längst voraus: entweder in der Radikalität der Forderungen oder in der Pragmatik.
Die neue Kinofassung von „Moderne Zeiten“ hat als erstes Bild ein altes englisches Zertifikat zu bieten, das dem Film bescheinigt, für „weltweite Verwertung“ freigegeben zu sein - oder „Ausbeutung“, je nachdem, wie man exploitation übersetzen will. Besseres kann ihm und uns heute nicht passieren, denn Chaplin leistet ganze Arbeit. Bleibt nur die Frage, warum ein Frankfurter Kino am frühen Abend leer bleibt, wo doch mit „Moderne Zeiten“ dort der modernste Film der Saison gespielt wird.