„Lieber Thomas“ im Kino : Träume eines deutschen Riesen
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Gerade die auf Sprache gegründete Rolle des Dichters verlangt eine intensive Körperlichkeit: Albrecht Schuch als Thomas Brasch Bild: Peter Hartwig/Zeitsprung Pictures/Wild Bunch Germany
Der Regisseur Andreas Kleinert erzählt das Leben des DDR-Dichters Thomas Brasch in nostalgischen Schwarzweißbildern. Aber er versäumt es, das Familiendrama darin scharf zu stellen.
Einmal, das Jahr ist 1976, wird der Dichter Thomas Brasch beim obersten Vertreter der Macht in seinem Land vorgelassen. Über endlose Flure läuft er durch das Gebäude des Staatsrats der DDR, bis er im Vorzimmer des Vorsitzenden Erich Honecker angelangt ist. Die Sekretärin winkt ihn herein. Dann steht er dem großen Mann gegenüber. Aber sie sehen sich nicht an. Honecker blickt aus dem Fenster. Und Brasch starrt vor sich hin.
Der Staatslenker fragt den Dichter nach seinen Eltern – der Mutter, die gestorben, dem Vater, der ein hoher Kulturfunktionär ist. Dann sagt er: „Sicher hast du Talent, Tommy.“ Ob sein Buch erscheinen dürfe, fragt Brasch. „Natürlich nicht“, antwortet Honecker. „Unsere Bürger sind noch nicht reif dafür.“ Da zeigt ihm der Dichter die Zähne: „Mein Buch wird erscheinen, so oder so.“ Keine Reaktion bei Honecker. Schweigen. Die Audienz ist beendet.
Andreas Kleinerts Film „Lieber Thomas“ ist der Versuch, die Geschichte der DDR aus der Sicht eines Künstlers zu erzählen. Das setzt den Film ästhetisch und historisch stark unter Druck. Immer wieder muss das, was geschieht, mit dem allgemeinen politischen Geschehen abgeglichen werden: die Kadettenschulzeit in Naumburg mit Propagandabildern aus den fünfziger Jahren, das Jahr 1968 mit Dokumentaraufnahmen vom Prager Frühling und dem Einmarsch der Roten Armee. Dabei entstehen vielsagende Lücken. Der Fall der Mauer wird von Kleinert mit keinem Bild erwähnt. Thomas Brasch, der die Ereignisse von 1989 von West-Berlin aus erlebte, hat das Ende der DDR literarisch nicht verarbeitet. Nach der Wiedervereinigung verstummte er. 2001 erschien ein schmaler Prosaband über einen Mädchenmörder, ein Fragment aus einem Konvolut von mehr als zehntausend Seiten, das die Berliner Akademie der Künste aufbewahrt.
Den Grund des Verstummens deutet der Film in einer gespenstischen Szene an. In einem Ost-Berliner Krankenhaus versucht Brasch vergeblich, sich Zugang zum Leichnam seines Vaters zu verschaffen. Das Personal, erfährt er, habe sich großteils nach Westen abgesetzt. Dann fällt der Strom aus, der Empfangsraum wird dunkel. In Wahrheit ist Horst Brasch schon im August 1989 gestorben. Es war die Mauer, nicht die Fluchtwelle, die seinen dreizehn Jahre zuvor ausgereisten Sohn am Wiedersehen hinderte. Aber der Film legt sich sein eigenes Geschichtsszenario zurecht, in dem auch der Anlass der Ausreise, Braschs Unterschrift unter die Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, nicht vorkommt. Für Kleinert sind Vater Staat und Vater Brasch zwei Gesichter einer Medaille, deshalb müssen für beide gleichzeitig die Lichter ausgehen. Wer wissen will, warum sich im Herbst 2021 ein Spielfilm mit Thomas Brasch beschäftigt, muss Braschs Gedichte lesen – etwa jenes, dessen einzelne Zeilen in „Lieber Thomas“ als Kapitelüberschriften dienen: „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber / (. . .) wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“.
In den späten siebziger Jahren, als Brasch im Westen entdeckt wurde, erklang in diesen Versen die Melodie eines Lebensgefühls, das den Kalten Krieg hinter sich und den Aufstand gegen die Väter noch vor sich hatte. Der Existenzialismus, der in Deutschland lange Zeit nur ein Modephänomen gewesen war, fand in Braschs Lyrik und Dramatik („Lovely Rita“, „Rotter“, „Lieber Georg“) seinen poetischen Ausdruck. Dann aber fing Brasch an, Filme zu drehen. Drei von ihnen wurden in Cannes gezeigt; der letzte, „Der Passagier“ mit Tony Curtis, dessen Drehbuch Brasch zusammen mit Jurek Becker geschrieben hatte, lief 1988 vor leeren Kinosälen. Es war die Geschichte eines Holocaust-Überlebenden. Braschs Vater, ein deutscher Jude, hatte den Nationalsozialismus als Jugendlicher im englischen Exil überlebt.