Neu im Kino : Eine kleine Reflexion über das Sehen
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Léa Seydoux und Pascal Greggory in „An einem schönen Morgen“ Bild: Les Films Pelleas
Eine Frau, die nicht nur Geliebte ist, Mutter, Tochter oder Arbeitnehmerin, sondern alles auf einmal: Léa Seydoux in Mia Hansen-Løves „An einem schönen Morgen“.
Es könnte einen ja wundern, dass das heute noch etwas Besonderes sein soll: eine komplexe weibliche Hauptfigur in einem Film. Eine, die nicht nur Geliebte ist oder Mutter oder Tochter oder Arbeitnehmerin, sondern alles auf einmal. Und die dabei zwar eine scheinbar unendliche Geduld zu haben scheint, aber keinerlei Willen, sich aufzuopfern.
So ist das in „An einem schönen Morgen“ der französischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, und wer den Film sieht, merkt sofort, dass hier etwas anders ist. Da ist eine Frau, die alleinerziehend ist, die ihren kranken Vater pflegt, die sich in einen alten Freund verliebt, die als Übersetzerin arbeitet und in deren Leben all das gleichberechtigt nebeneinander steht – und da ist ein Film, der sich für all diese Aspekte gleichermaßen interessiert.
In der ersten Szene des Films steht Sandra (Léa Seydoux) vor der Wohnungstür ihres Vaters (Pascal Greggory) und klingelt. „Ich komme“, ist zu hören, und dann: „Aber wo ist der . . .?“ – „Der Schlüssel?“ – „Ja, der Schlüssel.“ – „Der Schlüssel steckt in der Tür, du lässt ihn immer dort.“ Nach einer kurzen Pause hört man die Stimme des Vaters erneut: „Aber . . . Wo ist die Tür?“
Dieser Filmbeginn funktioniert nicht nur deshalb so gut, weil er in wenigen Sätzen das Verhältnis zwischen Vater und Tochter skizziert, das von der neurodegenerativen Benson-Krankheit gezeichnet ist, an welcher der frühere Germanistikprofessor leidet. Der Anfang zeigt mit dem Schwellenmotiv auch den Erzählbeginn als holprigen Eintritt in die Fiktion: Wo ist der Schlüssel, wo ist die Tür, um den Eintritt in diese Geschichte zu erzählen?
Ein Schlüssel liegt in der Hauptfigur und auch im herausragenden Ensemble des Films. Léa Seydoux darf hier als Sandra, wie sie selbst in einem Interview sagt, „endlich einmal eine normale Frau darstellen“. Sie spielt die Rolle ungeschminkt, mit kurzen Haaren und im Schlabberpulli, was egal sein könnte, einen aber trotzdem freut. Auch Pascal Greggory ist in der Rolle des Vaters perfekt.
Ein herausragendes Ensemble
Er ist nie nur vergesslich und gebrechlich, sondern auch hintergründig, fast verschmitzt, was seiner Krankheit selbst dann etwas Tröstliches verleiht, wenn er wegen Platzmangels von Einrichtung zu Einrichtung gereicht wird. Neben Sandras Tochter Linn (Camille Leban Martins), auch sie angenehm weit von jedem Klischee eines achtjährigen Mädchens entfernt, gibt es da noch Clément (Melvil Poupaud), den Sandra nach einigen Jahren zufällig wiedertrifft. Er war ein Freund von Sandras verstorbenem Mann, ist verheiratet und hat einen Sohn in Linns Alter.
Clément ist Astrophysiker beziehungsweise: „Kosmochemiker“, wie er Sandra immer korrigiert, und das spielt eine Rolle, ebenso sehr wie Sandras Beruf als Dolmetscherin immer wieder detailliert gezeigt wird. Es ist kein Zufall, dass sie sich bei ihm auf der Arbeit zum ersten Mal küssen, in einem Film, der seine Figuren so sehr als arbeitende Wesen zeigt, wie das im Kino selten ist.
Wie nebenbei ist „An einem schönen Morgen“ auch eine kleine Reflexion über das Sehen, über Wahrnehmung und Filmästhetik. Da ist die Erkrankung des Vaters, die auch seine Augen betrifft. Was er noch erkennen könne, fragt Sandra ihn einmal, und er entgegnet, dass er zum Beispiel sie sehr wohl sehen könne. Ihr Sommerkleid mit den Blumen? Ja, sicher.
Doch als Nächstes rät er, dass sie wohl eher lange als kurze Haare habe. Dass der Vater aufhört, sie zu sehen, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, stattdessen immer nur nach seiner Freundin fragt, ist schmerzhaft für Sandra, obwohl es der Krankheit zuzuschreiben ist. Dann sind da die Kinderfilme, die sie mit ihrer Tochter im Kino sieht. Linn ist begeistert und dann wütend, als die Mutter sagt, sie möge sie nicht.
Diskrete Distanz
„Zu aggressiv“ sind ihr Farben und Töne dort. „An einem schönen Morgen“ selbst entkommt beiden Extremen: Er sieht sehr genau hin, aggressiv ist er nie. Die Kamera wahrt eine diskrete Distanz. Sie ist einfühlsam, aber nicht aufdringlich und ähnelt damit dem Umgang der Familienmitglieder untereinander. Sie verstehen und unterstützen einander, aber vermitteln auch die Haltung: Jeder hat sein eigenes Leben.
Dazu passt, dass es wenig tatsächliche Nahaufnahmen gibt, eher den Blick auf ganze Körper, die ständig in Bewegung sind. Der Film ist dadurch auch sehr sinnlich und, anders als in der französischen Filmtradition à la Rohmer, nie verkopft. In einer der berührendsten Szenen sind Sandra, ihre Tochter und Clément bei einem gemeinsamen Singen im Altenheim. Das Chanson „Mon amant de Saint-Jean“ bringt Sandra zum Weinen und macht sie damit auch zu einer Spiegelfigur des Filmpublikums.
Ein Verweis im Abspann verrät, dass Mia Hansen-Løve hier auch einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Einen der Texte aus den autobiographischen Aufzeichnungen von Sandras Vater hat Ole Hansen-Løve geschrieben, der Vater der Regisseurin. Trotzdem geht „An einem schönen Morgen“ über die autobiographische Dimension hinaus. Er zeigt eine Frau der Gegenwart, wie es vielleicht nur in Frankreich und vielleicht sogar nur bei Hansen-Løve geht – und erzählt doch eine universelle, sehr zärtliche Geschichte.