Film von Serebrennikow : Vorsicht, wenn die schmächtige Bibliothekarin schwarz sieht
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Treibstoff der Bewusstseinserweiterung: Semjon Sersin als Petrow (rechts) und Juri Kolokolnikow als Igor (Mitte) begießen das bevorstehende Neujahrsfest. Bild: Farbfilm
Schutzengel Schneeflöckchen: Kirill Serebrennikows Film „Petrow hat Fieber“ jagt virtuos durch postsowjetische Bewusstseinslabyrinthe. Darin spukt der Teufel, die Kindheitserinnerung findet aber auch Paradiesgärten.
Dieser Film hat das Zeug, zu einem neuen Silvester-Pflichtprogramm für Russischsprachige oder Fans russischer Kultur zu werden – als schwarzer Kontrapunkt zu der romantischen Komödie „Ironie des Schicksals“ aus dem sowjetischen Stagnationsjahr 1975. Der heute im Exil lebende russische Regisseur Kirill Serebrennikow drehte „Petrow hat Fieber“, eine furiose Zweieinhalbstundenirrfahrt durch postsowjetische Bewusstseinslabyrinthe, während seines absurden Moskauer Gerichtsprozesses, bei dem ihm Veruntreuungen vorgeworfen wurden, in den Nächten zwischen Verhandlungstagen.
Sein Drehbuch folgt wie die Vorlage, der gleichnamige Roman von Alexej Salnikow, der delirierenden Traumlogik. Der geschiedene Vater Petrow – ein russischer Jedermann – wird kurz vorm Jahreswechsel grippekrank und dadurch empfänglich für Wahnvisionen, Jenseitserscheinungen und Kindheitserinnerungen. Seine Geschichte spielt nicht in den zum Verwechseln ähnlichen Neubausiedlungen von Moskau und dem damaligen Leningrad wie in dem Kultfilm von Eldar Rjasanow, sondern in der rauen Industriestadt Jekaterinburg, wo fast niemand gesund zu sein scheint. Auch Petrows Ex-Frau, eine unscheinbare Bibliothekarin, steckt sich an. Obendrein schwelgt die vom Publikumsliebling für Lichtgestalten Tschulpan Chamatowa verkörperte Figur in Mordphantasien. Ein mit dem Helden befreundeter Schriftsteller lässt sich gar, um der traurigen hiesigen Normalität zu entgehen, beim Freitod assistieren, und zwar so, dass weder er wirklich als Selbstmörder noch sein Helfer als Mörder gelten kann.
Obszöne Phantasien des armen Alten
Die Eingangsszene im schummrigen Bus, deren rabiate Ticketverkäuferin sich zu Ehren des nahenden Fests als Prinzessin Schneeflocke kostümiert hat, schlägt das durchgängige Motiv der eingezwängten Lebensreise an. Im Gegensatz zur heiteren Resignation, die bei Rjasanow vorherrscht, wünschen die Menschen hier Gastarbeiter, Politiker, Juden und oft auch einander zum Teufel. Ein armer zahnloser Rentner, dem ein kleines Mädchen seinen Sitzplatz überlässt, traktiert das Kind mit seinen obszönen Phantasien. Als sich plötzlich die Tür auf ein Bürgerkriegsgetümmel öffnet, in dem willkürlich die Reichen abgeknallt werden, gerät der fiebernde Held in einen Film im Film, worin die Aggressionen des Volkes in die Tat umgesetzt werden.
Semjon Sersin ist ein nachdenklicher, weichherziger, empathievoller Petrow, der seinen Sohn liebt und zu dessen Begeisterung Comics zeichnet. Chamatowa als seine Ex, die ihn noch immer heiß begehrt, spielt hingegen eine nur äußerlich beherrschte Büchereiangestellte, deren Psyche von Vergeltungsgelüsten beherrscht wird. Ihre unerfüllte Leidenschaft für Petrow verwandelt sie in selektiven Männerhass, der sie in eine andere, dämonische Realität transferiert. Mehrmals im Film werden Chamatowas Augäpfel schwarz, und es wachsen ihr übernatürliche Kräfte zu wie einer „Matrix“-Heldin oder wie im Videospiel. Etwa bei einer Dichterlesung in ihrer Bibliothek, bei der Serebrennikow noch einmal die Moskauer literarische Prominenz versammelt hat, die sich seither infolge des Krieges durch Emigration teilweise zerstreute.