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Ukrainischer Film „Stop-Zemlia“ : Verliebt schon, aber in wen?

  • -Aktualisiert am

Ein anderes Leben scheint im Traum zum Greifen nah: Masha (Maria Fedorchenko) Bild: Oleksandr Roshchyn

Was bedeutet es, in der Ukraine heute jung zu sein? Kateryna Gornostais Film „Stop-Zemlia“ zeigt gefährdetes Leben im großen Aufbruch.

          3 Min.

          Für die jugendliche Selbstfindung gibt es zahllose hilfreiche Kategorien. Die Popmusik lädt ein, sich irgendwo zwischen Rockabilly und R’n’B, Grunge und Grime zu verorten, und das betrifft ja erst einmal nur einen Teilbereich der Inszenierung des Selbst. Manche schwören auf die sechzehn Typen des Myers-Briggs-Modells und finden sich im Rubik-Spiel mit vier Buchstaben wieder.

          Senia, ein junger Mann aus der Ukraine, ist mit seiner Definition da schon ein wenig spezifischer: Er ist ein „amorpher Aromantiker“ und damit wohl erst einmal ziemlich eigenständig. Nun könnte er aber bald Schule machen, denn Senia ist in dem Film „Stop-Zemlia“ von Kateryna Gornostai zu sehen, und er hat dort sehr das Zeug zu einer Identifikationsfigur. Dabei ist er durch und durch ein Nerd. Die Mütze, die er über seinem in der Mitte gescheitelten Haar trägt, legt er nie ab. Seine T-Shirts enthalten jeden Tag eine neue Unsinnsbotschaft („non-sense“), seine Zeit verbringt er am liebsten mit den zwei Mädchen Masha und Yana, mit denen er eine amorphe Intimität teilt.

          Sie lungern oft einfach im Bett herum, das Handy immer in Reichweite, oder sie rauchen auf einer Fensterbank mit Blick auf Kiew. Senia ist schwer verliebt, aber er sagt nicht, in wen. Bei Ma­sha ist das ein wenig anders. Bei ihr ist offensichtlich, dass sie einen Jungen aus der Klasse besonders gern mag: Er heißt Sasha, er spielt Klavier, vom Typ her könnte er ein Intellektueller sein oder werden, er trägt sich aber mit dem Gedanken, sich zur Armee zu melden.

          2021 hatte „Stop-Zemlia“ auf der Berlinale Premiere. Von der Invasion russischer Truppen war da noch keine Rede, und in Deutschland hätten wohl nur wenige von der Ukraine als einem Land im Krieg gesprochen. Vor Ort war das immer schon anders, viele Menschen gerade auch in der Kultur zählen die Kriegstage seit 2014 und sind inzwischen längst bei vierstelligen Ziffern angelangt. Die ukrainischen Filme aus den letzten Jahren kreisten vielfach um dieses Thema: um den stets gegenwärtigen Donbass, um die Versehrungen, die Menschen von dort mitbringen, um die Angst, eines Tages dort hinzumüssen, oder eben um die Möglichkeit, sich für ein Leben als Held zu entscheiden. Eine Möglichkeit, die in den Krisen des Heranwachsens auch einem feinfühligen Jungen wie Sasha attraktiv erscheinen kann.

          Das häufigste Wort ist Angst

          Bei Kateryna Gornostai ist der Krieg auch im Hintergrund immer präsent. „Stop-Zemlia“ ist aber in erster Linie ein Dokument eines Übergangs in den persönlichen Entwicklungen einer Gruppe von jungen Leuten aus der heutigen Ukraine. Der Begriff Dokument trifft auch dann zu, wenn man im strengen Sinn von einem Spielfilm sprechen muss. Die Regisseurin hat aus einem umfangreichen Casting-Prozess heraus eine kleine Gruppe gefunden, mit der sie dann wie in einem Workshop weitergearbeitet hat. Nominell haben wir es nun mit einer 11. Klasse zu tun, der Schulabschluss steht kurz bevor.

          Vielleicht ein Dutzend Figuren werden deutlicher erkennbar, vier lernen wir sehr gut kennen. Sasha lebt in Familienverhältnissen, die man als geordnet bezeichnen könnte. Ihre Mutter ist nahbar, der kleine Bruder ist natürlich manchmal ein Störenfried. Das Wort, das in ihren Selbstbeschreibungen allerdings am häufigsten auftaucht, ist Angst. Ein paar Mal während ihres Films bittet Kateryna Gornostai ihre Darstellerinnen vor eine weiße Wand und lässt sie direkt in die Kamera sprechen. Das wirkt dann, als würfe die Erzählung einen Anker in der konkreten Biographie der jungen Leute, die man spielen sieht. Aber auch diese Szenen sind „geschrieben“, wenngleich eben auf Grundlage eines gemeinsamen Prozesses, in den die Regisseurin auch Erinnerungen an ihre eigene Jugend in den frühen Nullerjahren einfließen lässt.

          Kulturgrenzen eines leidenden Landes

          Seit damals ist in der Ukraine eine Menge passiert, unter anderem zwei starke Manifestationen für eine faire Demokratie (die orangene Revolution 2004 und die Revolution der Würde 2014). Eine der Konsequenzen der graswurzelförmigen Reformbemühungen liegt auch darin, dass sexuelle Identität inzwischen deutlich offener gesehen wird. In einer neuen Geschichte „Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg“, die kürzlich in der Edition Suhrkamp erschienen ist, ist von einer „Kulturgrenze“ die Rede, die sich aus dem Umgang mit LGBTQ ergibt. Russland verdrängt und bekämpft alles, was nicht heterosexuell ist, als „Gayropa“. In der Ukraine verläuft diese Kulturgrenze inzwischen eher zwischen Stadt und Provinz.

          „Stop-Zemlia“ ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie offen die ukrainische Gesellschaft inzwischen ist, ohne dass es deswegen für junge Leute leichter wäre, unbeschwert heranzuwachsen. In manchen Fällen verläuft die Kulturgrenze auch noch zwischen den Generationen, wie bei Sasha und seiner Mutter. Sie steht in mancherlei Hinsicht noch für Haltungen, die ihre Wurzeln in der Sowjetunion haben. Eine emanzipierte Frau, die von ihrem Sohn wiederum eher konformes Verhalten erwartet. Alle diese Aspekte kann man in „Stop-Zemlia“ lesen, man kann den Film also tatsächlich auch als politisches Dokument lesen. Zugleich hat Kateryna Gornostai aber einfach einen der schönsten Filme über das Jungsein gemacht, den es im Kino gibt – und da hat sie ja starke Konkurrenz.

          „Coming of age“ ist längst ein eigenes Genre, immer wieder gibt es wunderbare Geschichten über Werdejahre. Einmal bricht die Regisseurin die Distanz zu ihren Figuren auf, sie fragt Masha plötzlich: „Gibt es etwas, was du mich fragen wolltest?“ Masha verzichtet auf eine Frage, eine Umarmung ist angemessener.

          Mit dieser Geste eines Bruchs der dramatischen Objektivität gibt Gornostai sich selbst als zutiefst involviert zu erkennen, und zwar auf allen Ebenen. „Stop-Zemlia“ erzählt davon, wie sich Angst überwinden lässt, zuerst einmal vielleicht nur mit der Bitte um einen Tanz, dann aber unübersehbar so, dass eine ganze Gesellschaft hier ihre Erlösung aus den Ritualen männlicher Härte zu proben beginnt. Eine Schule des Lebens im besten Sinn.

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