Kinodrama „Die Welt sehen“ : Für Frau Kriegerin ist die Front überall
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Zwischen dem Einsatz in Afghanistan und der Heimat: Marine, Aurore und ihre Kameraden auf dem Weg zur „Dekompression“ im Hotel auf Zypern Bild: Peripher Filmverleih
Ein Film über den Krieg, der in den Köpfen bleibt: Das Kinodrama „Die Welt sehen“ porträtiert französische Soldatinnen in einer anstrengenden Gefechtspause.
Auf dem Flug von Afghanistan nach Frankreich liegt Zypern ungefähr auf halber Strecke. Die Insel im Mittelmeer soll für einen Zug französischer Soldaten eine Gelegenheit bieten, vor der Rückkehr in den Alltag noch ein wenig auszuspannen. Drei Tage „Dekompression“ in einem Touristenhotel am Meer – der Begriff deutet schon an, dass es nicht nur darum gehen wird, die Seele baumeln zu lassen. Eher darum, die Seele wiederzufinden, die in den extremen Erfahrungen einer militärischen Mission in einem unwegsamen Land voller unsichtbarer Feinde Schaden genommen hat. Dekompression bedeutet Urlaub mit Therapie, aber nicht bei allen stößt das Angebot auf Zustimmung.“ Die wollen doch nur unsere Erinnerungen durch Fakebilder ersetzen“, beschwert sich Marine, die besonders schwer zur Ruhe kommt.
Marine ist eine von zwei weiblichen Hauptfiguren in dem Film „Die Welt sehen“ („Voir du pays“) von Delphine und Muriel Coulin. Sie teilt ihr Zimmer mit Aurore. In einer republikanischen Berufsarmee wie der französischen kämpfen Männer und Frauen Seite an Seite, auch wenn der Frauenanteil doch deutlich geringer ist. Neben Marine und Aurore gibt es eigentlich nur noch die Sanitäterin Fanny. Sie tragen alle die Funktionskleidung, die sie schon in Afghanistan bei sich hatten: einheitliche T-Shirts und Army-Hosen. Zwischen den leichtbekleideten Touristen im Hotel sehen sie aus wie Häftlinge.
Das Militär als Ausweg aus der Perspektivlosigkeit
Abends gibt es Party, tagsüber einen Ausflug mit dem Boot. Die wichtigste Einheit des Tages aber ist die Gruppentherapie, bei der virtuelle Bilder zum Einsatz kommen: Einer aus der Gruppe muss nach vorn, bekommt eine Datenbrille aufgesetzt, und dann geht es zurück in den Einsatz. Bei einem Hinterhalt in den verschneiten Bergen Afghanistans hat die „section“ zwei Kameraden verloren. Die Überlebenden kommen mit dem Ereignis unterschiedlich gut zurecht. Manche haben Schuldgefühle, andere weisen brüsk zurück, dass ihnen die Sache nahegegangen sein könnte. „Benennen Sie Ihr Stresslevel auf einer Skala von eins bis zehn“, fordert der Vorgesetzte immer wieder. Es erweist sich, dass das virtuelle Reenactment den höheren Stressfaktor hat, aber das mag auch damit zu tun haben, dass sich diese Bearbeitung dazwischendrängt: Manche wären am liebsten schon daheim, anderen war dieser Feindkontakt nicht genug, sie wären gern weiter im Feld.
Kinotrailer : „Die Welt sehen“
Delphine und Muriel Coulin, die davor mit dem klugen Teenagerfilm „17 Mädchen“ auf sich aufmerksam gemacht hatten, beschäftigen sich in „Die Welt sehen“ mit einem neuralgischen Punkt moderner Gesellschaften: Sie delegieren den Krieg an Menschen wie Aurore, eine junge Frau aus der Küstenstadt Lorient. Die beruflichen Perspektiven dort sind überschaubar, das Militär bietet eine Alternative. Die Dekompression auf Zypern macht aber deutlich, dass der Abstand zwischen Alltag und Krieg für Menschen aus Europa so enorm ist, dass sie einen Zwischenschritt benötigen.
Ein Konflikt, den sie nicht gewinnen können
Es ist genau dieser Zwischenschritt, den auch das Publikum machen kann, in einem Kriegsfilm, der sich nicht selbst ins Gefecht wirft und so tut, als könnte man sich einfach so die Kugeln um die Ohren fliegen lassen. Die Schwestern Coulin interessieren sich für den Krieg, der in den Köpfen bleibt. Und sie haben mit Zypern einen idealen Ort für ihre Geschichte gefunden. Denn die geteilte Insel ist selbst in gewisser Weise eine Front. Hier trifft Europa auf den Rest der Welt, entlang einer Grenzlinie, die sichtbar macht, was auf dem Meer zwischen Griechenland und der Türkei (oder zwischen Italien und Libyen) nur eine virtuelle Linie ist.
Die diskreten Assoziationen, mit denen Delphine und Muriel Coulin arbeiten, lassen die Soldaten selbst beinahe zu „Geflüchteten“ werden. Sie kommen aus einem Konflikt, den sie nicht gewinnen konnten, sie sind posttraumatisch belastet, das Hotel hat einen Swimmingpool, ist aber eigentlich so etwas wie ein „Hotspot“. Nur eben mit dem Unterschied, dass die Soldaten des Zugs schon ein Leben in Frankreich haben, was aber nicht heißt, dass sie nicht neu zu integrieren wären.
Die Flüchtlingskrise ist einer der Hintergründe, die in „Die Welt sehen“ hineinspielen. Der andere ist eine Tradition militärischen Engagements, die spezifisch für Frankreich ist. Vor allem die Männer im Zug scheinen noch genau zu wissen, was die Fremdenlegion war, ein Expeditionskorps im Dienste kolonialer Interessen und vor allem ein großes Abenteuer. Auch der Titel des Films spielt darauf an: Wer sich verdingt, kriegt etwas zu sehen, wird herumkommen.
Der offene Horizont trügt
Dieser Mythologie stellen Delphine und Muriel Coulin das bewusst beschränkte Setting eines Films entgegen, in dem zwar jeden Morgen das blaue Meer leuchtet und der Horizont offen ist. Aber de facto ist das Hotel ein Lager, auch wenn es den All-inclusive-Russen, die freiwillig dort sind, nicht bewusst ist. Die Spannungen eskalieren schließlich, als einige aus dem Zug unerlaubt das Hotel verlassen und mit zwei Einheimischen in ein Dorf fahren.
Mit den Anspielungen auf die Fremdenlegion bekommt „Voir du pays“ eine Pointe, die allein den ganzen Film sehenswert macht: Denn die ironische Selbstbezeichnung der Legionäre als „wir, die Verdammten dieser Erde“, die der Zug singend übernimmt, bringt alles durcheinander, was zu militärischen Engagements einer europäischen, (post-)kolonialen Großmacht wie Frankreich zu sagen ist.
Es sind die Frauen, die dieses Lied nicht mitsingen, und das hat nicht nur damit zu tun, dass sie sich der männerbündlerischen Kumpanei entziehen wollen. „Voir du pays“ führt genau an die Grenze, an der Kriegseinsätze in einem Niemandsland der Legitimität stattfinden, und einfache Leute wie Marine und Aurore (de facto sind es natürlich zwei Stars: Soko und Ariane Labed) das nicht einfach ausbaden können.