Kino : „Russian Ark“ von Alexander Sokurow
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Melancholie ohne Schnitt: Europa tanzt am Rand des Abgrunds Bild: Delphi
Ein Film, wie es noch keinen gab: Alexander Sokurows "Russian Ark" kommt ohne einen einzigen Schnitt aus. In einem rauschenden Wasserfall aus Uniformen und Abendkleidern läßt er das zaristische Rußland untergehen.
Kunstexperimente sind wie Zerrspiegel. Das mißlungene spiegelt nichts als die Absichten seines Schöpfers. Das gelungene dagegen löscht sie aus. Alles, was an Willen in der schöpferischen Anstrengung steckt, sei es auch noch so provokant oder verstiegen, geht unter im Ergebnis.
Wir wissen nicht, was Cimabue oder der Meister der Aphrodite von Knidos mit ihren Tabubrüchen beabsichtigten. Aber es kommt auch nicht mehr darauf an. Das Werk hat das Wagnis, das ihm vorausging, aufgesogen, die Intention ist verglüht in seinem Glanz.
Geschichte im Fluß
Alexander Sokurows "Russian Ark" ist ein gelungenes Kinoexperiment. Deshalb muß man die Kommentare, die der Regisseur seinem Film nachgeschickt hat, nicht unbedingt ernst nehmen. Aber es ist dennoch interessant zu sehen, wie sehr Sokurow sich verschätzt. So hat er "Russian Ark" mit Alfred Hitchcocks "Rope" verglichen, einem Film, in dem es, wie bei Sokurow, keine sichtbaren Schnitte gibt - als hätte Hitchcock sich je für große Kunstwerke und geschichtliche Gestalten interessiert statt für Menschen und ihre Motive.
Sokurow dagegen ersetzt die Menschen durch ihre Abbilder: hier ein El Greco, ein Rubens, ein van Dyck, dort der Zar Peter und die Zarin Katharina. Hitchcock benutzte, wie später Stanley Kubrick, das fließende Kamerabild, um seine Geschichte zum Fließen zu bringen. Sokurow benutzt es, um Geschichtliches zu verflüssigen. Sein Film ist die reine Kulissenmalerei. Aber weil er so rein ist, ist er zugleich viel mehr.
Ein rollendes Bild
An dieser Stelle muß man vielleicht erklären, worum es in "Russian Ark" geht. Zwei Männer laufen durch die Eremitage in Sankt Petersburg, sechsundneunzig Minuten lang. In dieser Zeit durchqueren sie drei Jahrhunderte russischer Geschichte, von der Entstehung der Stadt nach 1710 bis zum Winter 1913. Sie treffen Peter den Großen und die Zarin Katharina, erleben eine Audienz bei Nikolaus I. und ein Souper bei Nikolaus II. und seiner Familie. Und sie betrachten einige der zahllosen Gemälde, die an den Wänden des Museums hängen, und eine Handvoll Statuen auf ihren Konsolen. Das ist alles? Fast. Es gibt ein paar Besonderheiten, die Sokurows Arche über den Rang eines Beitrags im Schulfernsehen hinausheben. Die hervorstechendste ist ihre Form. Denn "Russian Ark" ist eigentlich kein Film, sondern ein rollendes Bild.
Daß das Kino nicht mit der Erfindung der Filmkamera, sondern erst damit anfing, daß ein Bild an ein anderes geklebt wurde, hat zuerst Godard gesagt, aber schon Eisenstein, Griffith und Feuillade, die Pioniere visuellen Erzählens, haben diese Einsicht praktiziert. Sokurow wischt sie mit "Russian Ark" beiseite. Er hat eine Steadycam so umrüsten lassen, daß sie hundert Minuten hochauflösenden Videofilm belichten konnte, und den Gang durch die Eremitage dann, nach monatelangen Proben, in Echtzeit aufgenommen.
Das Experiment klappte im dritten Versuch. "Russian Ark" ist die Dokumentation seines Gelingens. Aber der Film wäre nicht der Rede wert, besäße Sokurows Kraftakt nicht zugleich das Pathos einer großen Idee. Es ist die Idee der Dauer selbst, der longue durée, der stillgestellten Zeit. Also das Gegenteil des Kinos und seiner Flüchtigkeit, der sich schon Sokurows frühere Filme, von "Die einsame Stimme des Menschen" (1987) bis "Taurus" (2000), entgegenstemmen. Man denkt nicht oft an Wagner im Kino dieser Jahre, aber in "Russian Ark" muß man es: Zum Raum wird hier die Zeit.
Tanz im Fegefeuer