Kinofilm „All My Loving“ : Die Krisen des Ich und die Krise des Wir
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Seine Uniform ist nur noch Fassade: Lars Eidinger als berufsunfähiger Flugkapitän in „All My Loving“ Bild: Port au Prince Pictures
So viel Wirklichkeit bekommt man selten in einem deutschen Film: Edward Bergers „All My Loving“ zeigt drei Geschwister am Lebenswendepunkt. Und hält dabei eine schwierige Balance.
Eine der ewigen Malaisen von deutschen Filmen besteht darin, dass sie mit der Wirklichkeit viel zu schnell zu fertig sind. Wie etwas aussieht oder ausgesehen hat, das steht immer schon fest und in Stein gemeißelt – die DDR bei Andreas Dresen (jüngste Folge: „Gundermann“), die alte Bundesrepublik bei Caroline Link („Der Junge muss an die frische Luft“), Hamburg bei Fatih Akin, Berlin bei fast allen anderen. Das Kino, scheint es, ist hierzulande eine Art Kulissenautomat geworden, in den man nur den Ortsnamen eingeben muss, um sofort ein komplettes Setting ausgespuckt zu bekommen – technisch perfekt, historisch korrekt, aber oft leblos und schal.
Deshalb tut es gut, wieder einen deutschen Film zu sehen, der sich seiner Schauplätze nicht ganz so sicher ist. Edward Bergers „All My Loving“ wurde, wie es heißt, zu großen Teilen in Nordrhein-Westfalen gedreht, wo das Geld für die Produktion herkam, aber wenn man nach den Bildern geht, dann hätte er problemlos auch am Oberrhein oder im Saarland entstehen können. Am Anfang treffen sich drei Geschwister in einem Edelrestaurant, das überall in Deutschland liegen könnte: Spiegelwände, Kellner mit Fliege, mediterrane Küche. Zwei Ortswechsel später – denn der Film erzählt nicht eine Geschichte, sondern drei Geschichten hintereinander – fliegt ein Ehepaar übers Wochenende nach Turin, aber es könnte auch irgendeine andere italienische Großstadt sein mit glasüberdachten Ladenpassagen, grasbewachsenen Plätzen und Hinterhöfen mit bröckelndem Putz.
Das ganz normale Schicksal
In „All My Loving“, mit anderen Worten, geht es weniger um die Kulisse als um das, was in ihr passiert. Um die Essenz des Lebens, könnte man sagen, wenn das für diesen Film nicht viel zu pathetisch klingen würde.
Julia, Stefan und Tobias, die drei Geschwister, sind Leute mittleren Alters, nicht mehr jung, aber noch ohne Fondssparpläne und Krankengymnastik. Ansonsten sind sie vor allem eines: allein. Stefan (Lars Eidinger) zieht sich seine Flugkapitänsjacke an, wenn er abends in Hotelbars auf Frauenjagd geht, seine Wohnung ist hell und leer, seine Ehe geschieden, seine Tochter in der Geisterbahn der Pubertät. Julia (Nele Mueller-Stöfen) läuft mit ihrem Mann durch Turin, als wäre er nicht da, bis sie ein verletztes Hündchen von der Straße aufliest und man auf einmal merkt, dass ihr etwas fehlt, was ihr kein Mann geben kann, nur ein Tier, auf das sie ihre Trauer um ihr totes Kind projizieren kann. Und Tobias (Hans Löw) fährt aufs Land, um nach seinem kranken Vater zu schauen, er sitzt mit seinen Eltern am Tisch und schläft in seinem alten Zimmer, aber das Haus ist kein Zuhause mehr, die Eltern sind kauzig und fremd, und als sich eine Gelegenheit ergibt, ihnen für einen Abend zu entkommen, nutzt Tobias sie sofort.
Es gibt in „All My Loving“ nicht das, was man unter Filmkritikern ein Drama nennt: keinen Mord, keinen Flugzeugabsturz, keine Entführung. Aber unterhalb dieser dramatischen Oberkante ereignet sich einiges, das den Begriff des Schicksals verdient. Stefan verliert wegen eines Gehörleidens seinen Job, seine Pilotenuniform ist nur noch Fassade, was bald auch die Frauen merken, bei denen er Trost sucht. Der tote Sohn zerfrisst die Ehe von Julia und Christian, und der Straßenköter bringt zum Vorschein, was sie schon lange voreinander verbergen. Der Vater, um den sich Tobias kümmern wollte, liegt nach einem Sturz auf der Intensivstation, und Tobias wird an seinem eigenen, von Aufschüben und Provisorien geprägten Leben irre, während das andere vor seinen Augen erlischt.
Man kann dieses Triptychon aus Ich-Krisen und Wir-Krisen banal finden, aber für einen Zuschauer, der das Teenageralter hinter sich hat, bietet es den Vorteil, dass er fast jede der darin gezeigten Situationen kennt.
Ein Erwachsenenfilm also, ohne Superhelden mit Superkräften, aber auch ohne augenzwinkernden Kotau vor dem Nostalgiebedürfnis eines alternden Kinopublikums. Es geht ums Ganze, um Arbeit, Liebe und Tod, aber so, dass man die Fragen, die der Film stellt, nicht ins Reich des kollektiven Imaginären, ins Kinokuckucksheim abschieben kann. Man könnte an dem Ernst verzweifeln, der in den drei Geschichten herrscht, wenn Edward Berger, der Regisseur, sie mit weniger Understatement inszeniert hätte und die Kamera von Jens Harant nicht so mühelos vom einen Schauplatz zum nächsten gleiten würde. Aber genau darin liegt ja der Zauber des Kinos: dass es das Schwere leicht, das Komplizierte einfach macht. Auch ohne Silikonmasken und Special effects.
Vor fünf Jahren hat Edward Berger mit „Jack“, der Geschichte eines vernachlässigten Jungen, das Publikum auf der Berlinale überrascht. Es war kein Debüt, sondern der letzte in einer langen Reihe von Spiel- und vor allem Fernsehfilmen, mit denen sich Berger jenes Praxiswissen verschafft hatte, das man im deutschen Kino allein nicht mehr bekommt. Inzwischen hat Berger bei fünf Folgen der Amazon-Prime-Spionageserie „Deutschland 83“ und drei Episoden des History-Horror-Spektakels „The Terror“ Regie geführt; aber mit „All My Loving“ kehrt er zum Realismus von „Jack“ zurück. Wie damals ist Nele Mueller-Stöfen seine Koautorin, und wie in der Geschichte des Streuners Jack richten die beiden ihren Blick mit einer unerbittlichen Zuneigung auf ihre Figuren, die man sonst nur aus dem amerikanischen Independentkino kennt. Es mag anmaßend klingen, wenn Berger Woody Allen, Ang Lee und Nanni Moretti als Vorbilder nennt. Aber irgendwo muss einer wie er die Leitsterne ja finden, an denen er sich orientiert. In Deutschland jedenfalls nicht.