„Kindeswohl“ im Kino : Wie zeigt man das Drama im Inneren?
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Emanzipiert und optimistisch: Emma Thompson als Richterin in „Kindeswohl“ Bild: ddp/INTERTOPICS/LMKMEDIA Ltd.
Liebe und Tod, Eltern und Kinder, das Gericht: Ian McEwans „Kindeswohl“ schrie geradezu danach, auf die Leinwand gebracht zu werden. Trotzdem geht der Film an der Idee des Buches vorbei.
Niemand wird behaupten, Ian McEwans „Kindeswohl“ sei unverfilmbar. Der Roman handelt von einer Familienrichterin am Londoner High Court, die tagtäglich über Kinderschicksale entscheiden muss, ohne selbst Kinder zu haben. Fionas Mann, ein Geschichtsprofessor, eröffnet ihr eines Tages, dass er eine Affäre mit einer Kollegin anfangen wird. Zur gleichen Zeit verhandelt Fiona den Fall eines leukämiekranken Jungen, der unter dem Einfluss seiner Eltern, die Zeugen Jehovas sind, eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert. Sie fährt an Adams Krankenbett, redet und musiziert mit ihm und entscheidet gegen ihn und für die Transfusion. Der Junge wird gesund, überwirft sich mit seinen Eltern und beginnt, Fiona nachzustellen. Sie weist ihn, wenn auch zögernd, zurück, lässt seine Briefe unbeantwortet und erfährt deshalb zu spät, dass Adam, inzwischen volljährig, nach einem Rückfall die zweite rettende Transfusion abgelehnt hat. Ihre taumelnde Ehe kommt unterdessen wieder ins Lot.
Das alles – Liebe und Tod, Eltern und Kinder, dazu die Arena des Gerichts – schrie geradezu danach, auf die Leinwand gebracht zu werden, und dieser Meinung war offenbar auch Ian McEwan, denn er hat das Drehbuch zu Richard Eyres Verfilmung geschrieben. Das einzige Hindernis auf dem Weg vom Buch zum Film bestand darin, dass „Kindeswohl“ kaum äußere Handlung hat. Das Drama spielt sich zum größten Teil in Fionas Innerem ab. Eyre und McEwan haben dieses Problem gelöst, indem sie die Rolle mit Emma Thompson besetzten. Thompson, die seit Mike Nichols’ „Engel in Amerika“ keine so vielschichtige Figur mehr verkörpert hat, zieht als Fiona die Summe ihrer schauspielerischen Karriere, sie bringt das Verhärmte, Verträumte, das Eifernde und Routinierte, die ungestillte Sehnsucht und Gekränktheit der Richterin gleichermaßen zum Klingen, manchmal mit so feinen Übergängen, dass man kaum bemerkt, wie sie ihre Gesichtszüge vom einen in den anderen Gefühlszustand und wieder zurück moduliert. Und so wäre alles eitel Freude und Staunen über den geglückten Transfer eines Bestsellers, wenn die Kinomacher McEwan und Eyre nicht etwas Wesentliches übersehen hätten.
Und das ist die Struktur der Geschichte. Die beiden Erzählstränge in „Kindeswohl“, die Ehekrise und die Begegnung von Fiona und Adam, kommen nie zusammen, sie laufen bis zum Ende parallel, aber sie verbinden sich im Kopf des Lesers, weil McEwan, der Autor, sie in Fionas Kopf zusammenführt. Das ist eine Frage der Perspektive. Und eine der Zeit. Der Roman hat sie; der Film hat sie nicht. Er kann nicht zeigen, wie die Richterin denkt, er muss zeigen, wie sie handelt. Deshalb steckt „Kindeswohl“ von Anfang an in einer Schieflage, denn die eine Geschichte, die vom Prozess um den krebskranken Zeugen Jehovas, schreitet voran, die andere dagegen steht still.
Man merkt es daran, wie Stanley Tucci, der Fionas frustrierten Ehemann spielt, seiner Figur Raum zu geben versucht. Er rudert mit den Armen, er stampft wie ein Stier durch das Luxusapartment, in dem die beiden leben, aber seine Not wird dennoch nicht plausibel; man fragt sich eher, warum er nicht einfach Ruhe gibt und Fiona ihren Job machen lässt. Im Buch liegen dreißig Jahre Ehe hinter den beiden; im Film ist es bloß ein Probentag am Set. Die Regie, mit anderen Worten, kann nicht zeigen, wie Fionas Welt zusammenbricht, als Jack ihr ankündigt, er werde jetzt zu einer Blondine ziehen, weil es diese Welt in Eyres „Kindeswohl“ gar nicht gibt. Nach einem Tag im blonden Wunderland kehrt Jack zerknirscht zu Fiona zurück, aber auch diese Wendung verpasst der Film, er schiebt Tucci nur wie ein Möbelstück an seinen angestammten Ort. Dort steht er bis zum Schluss in der Kulisse und wartet auf den Gong, der ihn erlöst.
Bleibt die Romanze zwischen der Richterin und dem Jungen. Es ist eins jener ungelebten Liebesdramen, in denen alles auf die Nuance ankommt, das sprechende Detail. Im Roman geht Fiona zu Adam ins Krankenhaus, sie reden über Musik und Poesie, er nimmt seine Geige und spielt ein Lied, und sie singt dazu den bittersüßen Text des Spätromantikers Yeats. „Am Bach auf einer Wiese war’s, wo sie mit mir stand. . .“ Im Film klappert der Junge auf einer Gitarre, und die Szene ist verdorben. Da hilft es nichts, dass Eyre und McEwan mit Fionn Whitehead („Dunkirk“) genau den richtigen Typus für die Rolle ausgewählt haben, einen Jüngling auf der Kippe zwischen Lyrik und Betriebswirtschaft. Der Gitarrensound bleibt an der Figur kleben, und als Fiona sich auf einer Dienstreise nach Schottland dazu hinreißen lässt, Adam zu küssen, wirkt es mehr wie ein Blackout als ein Fehltritt. Draußen wartet der Gerichtsdiener mit dem Wagen. Kein Auge, das hier nicht trocken bleibt.
Emma Thompson ist in ihrer Meisterschaft also nicht bloß allein. Sie ist so einsam wie eine Klaviervirtuosin, die ihre Partitur auswendig spielt, während das übrige Orchester einschließlich des Dirigenten noch beim Proben ist. Dass der Film sie am Schluss noch einmal an Adams Krankenlager führt, wo der Liebe endgültig die Luft ausgeht, ist nur der letzte von vielen falschen Tönen in „Kindeswohl“. Im Buch hat McEwan sein Material sicher im Griff, im Skript fällt es ihm auseinander. Aber auch aus diesem Tiefschlag kann man keine allgemeinen Schlüsse ziehen, denn bei der zweiten Ian-McEwan-Verfilmung dieses Jahres, Dominic Cookes „Am Strand“, hat der gleiche Selbstverwertungstrick ganz wunderbar geklappt (F.A.S. vom 17. Juni). Die Frage, ob große Autoren auch gute Drehbuchautoren sind, bleibt also offen. Ein abschließender Urteilsspruch ist demnächst nicht zu erwarten. Es sei denn, er käme aus dem Mund von Emma Thompson. Ihr würde man auch das noch glauben.