„Interstellar“ im Kino : Fliehkraft liebt Schwerkraft
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Die gewaltige planetarische Abstraktion des Ozeans ist noch die kleinste Herausforderung an die Menschen in diesem Film: Anne Hathaway beim Versuch, einen Flugschreiber zu bergen. Bild: Melinda Sue Gordon
Christopher Nolans Science-Fiction-Film „Interstellar“ rettet die Ehre der Tricktechnik. Und nicht nur das: Lange hat kein Film mehr den Reichtum des naturwissenschaftlich-technischen Weltbilds derartig bildmächtig genutzt.
Wir haben unser Zuhause verhunzt, weil wir zu schwach waren, es nach Erwerb der nötigen Weltkenntnis zu verlassen, wie das Erwachsene sollen.
Der Vater erzählt seiner Tochter, dass die Menschen einmal wussten, wie groß die Welt wirklich ist, und danach handelten. Die Schule erzählt der Tochter das Gegenteil: Bemannte Raumfahrt hat es nie gegeben. Die Vergangenheit ist eine Fälschung, die Zukunft schon ruiniert - ein Physiker erzählt vom Stickstoff, von Mehltau und davon, dass die Hungersnot erst der Anfang ist: Die Letzten, die verhungern müssen, werden die Ersten sein, die ersticken. Auch der Physiker hat eine Tochter. Die schickt er mit dem anderen Vater, der sich noch an Mondraketen erinnert, auf eine weite und sehr schnelle Reise. Deren Bogen führt an Feldlinien vorbei, die nicht so verlaufen wie die erdgebundene Erfahrung: Die Raumzeit wird auf dieser Nachtfahrt gestaucht und gestreckt. Die Tochter des Astronauten und der Vater der Astronautin bleiben zurück, als Punktspiegelung des anderen Vaters und der anderen Tochter. Die Verlassenen altern schneller als die Reisenden. Das ist Relativität.
Interstellar Trailer : Interstellar Trailer
Der Astronaut heißt Cooper, verkörpert von Matthew McConaughey: Tatkraft als Klarsicht, Hirn mit Herz. Seine Tochter heißt Murphy, gespielt von Jessica Chastain: Trotz in Anmut, Intelligenz aus Wut. Der Physiker heißt Brand, gegeben von Michael Caine: Weisheit samt Ironie, Trost und Entsagung. Seine Erbin heißt Amelia, ihre Darstellerin Anne Hathaway: Aufbruch samt Heimweh, Hoffnung unter Schmerzen. Diese vier überbrücken die Kluft zwischen den Sternen, als wäre das Universum ein Versuchsaufbau zur Erforschung dreier Fragen: Sind Abschied und Versöhnung dasselbe? Ist die einzige Rettung aus einer Lage, die ihren Ausweg verpasst hat, diejenige, für die man den höchstmöglichen emotionalen und intellektuellen Preis bezahlt? Braucht ein neuer Anfang für unsere ungezogene Spezies eine andere Sonne?
Was nicht Hier und Jetzt ist
Der Film heißt „Interstellar“ und ist erstens der Höhepunkt im bisherigen Schaffen des Autors und Regisseurs Christopher Nolan und zweitens ein Gattungsgipfel des Filmgenres „spekulative Durchbruchserzählung“. Bei dieser Gattung geht es darum, Erdgebundenheit und Gegenwartsbefangenheit abzustreifen, also das zu zeigen, was nicht Hier und Jetzt ist, sondern Draußen und Morgen.
Der Film leistet das anders, aber nicht schlechter als Fritz Langs „Frau im Mond“ (1929), Stanley Kubricks „2001 - A Space Odyssey“ (1968), Andrei Tarkowskis „Solaris“ (1972), „The Matrix“ (1999) von den Geschwistern Wachowski, „Mind Game“ (2004) von Masaaki Yuasa und „Upstream Color“ (2013) von Shane Carruth. Das sind die besten Filme der Gattung. „Interstellar“ gehört zu ihnen. Moment mal: Wieso fehlt „Star Wars“ (1977) von George Lucas in dieser Aufzählung? Weil die „spekulative Durchbruchserzählung“ eine andere Kinogattung ist als das futuristische Achterbahnvergnügen. Nichts gegen dieses. „Star Wars“ ist ein großer Film. Aber die Konfrontation endlicher Sehnsüchte und Ängste mit dem nicht immer ganz freiwilligen Erkennen des Unendlichen, die das Phantastische im Kino ausmacht, muss nicht notwendigerweise so irre mit den Armen rudern, wie sie das bei den Achterbahnfilmen tut. Das ist heute fast vergessen: In den letzten Jahren hat man die Kinophantastik flächendeckend der industrialisierten Schaustellerei unterworfen, und das Betrüblichste daran, von den großen Fantasy-Budenattraktionen bis zu den schwulstdurchwaberten Kunstfilmkathedralen eines Terence Malick, ist der Götze, dem das Ganze dient - sein Name: „Wow!“.