Im Kino: „Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte“ : Wir da unten, die da oben
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„Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte”: Die Details erschrecken, die Gesamtdiagnose bleibt banal Bild: ddp
Wissen Sie, wie wenig Piloten in den Vereinigten Staaten verdienen? So wenig, dass sie ihr Essen teils mit Lebensmittelkarten kaufen, wie sie Bedürftigen zustehen. Michael Moores neuer Film erschreckt mit solchen Details. Brauchen wir ihn also?
Es ist ja nicht so, dass wir wirklich alles schon wüssten, was Michael Moore, der amerikanische Selbstdarsteller und Borderline-Dokumentarfilmer, uns zu erzählen hätte. Wussten Sie etwa, wie miserabel Piloten in den Vereinigten Staaten bezahlt werden? So miserabel nämlich, dass sie ihr Abendessen unter Umständen mit Lebensmittelkarten bezahlen, wie sie auch sonstigen Bedürftigen zustehen? Oder dass es eine Praxis gibt, die „dead peasant insurance“ heißt, was eine Versicherungspolice benennt, die Unternehmen auf den Tod ihrer Mitarbeiter abschließen können und die ihnen im Fall des Ablebens ihrer Angestellten eine erkleckliche Summe verspricht? Nicht einmal die erstaunliche Anzahl von Managern der Investmentbank Goldman Sachs in den Regierungen seit Ronald Reagan dürfte allgemein geläufig sein. Brauchen wir also Michael Moore?

Redakteurin im Feuilleton.
Trotz alldem eher nicht. Denn unser Wissen bleibt so folgenlos wie seine Filme. Kein Bestechungsprozess ist aufgrund seiner Enthüllungen über die Verstrickungen großer Konzerne und Banken in Regierungsgeschäfte je angestrengt worden, kein Volksaufstand erhebt sich angesichts der himmelschreienden Zustände in der amerikanischen Arbeitswelt, kein Händler von der Wall Street wurde wegen Betrugs verhaftet, weil Michael Moore seine Machenschaften bloßstellte, kein säumiger Hypothekennehmer, der sein Haus verlor, konnte zurück ins Eigenheim.
Vermutlich hat noch nicht einmal jemand etwas gelernt von ihm, denn keine Debatte jenseits derer, die sowieso über die Waffengesetze, das Gesundheitssystem oder die Finanzkrise geführt werden, wurde je von einem Film von Michael Moore angeregt - außer von seinem ersten, „Roger & Me“, dessen zwanzigsten Geburtstag der neue Moore-Film „Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte“ markiert. Und in dieser Debatte damals ging es in erster Linie nicht um den Niedergang von General Motors und seiner Autoproduktion in Moores Heimatstadt Flint in Michigan, sondern um diese damals neue Art, Dokumentarfilme zu drehen. Als Unterhaltung nämlich. Mit inszenierten Auftritten des Filmemachers, der die Leute vor laufender Kamera attackierte. Der sich naiv gab und Kinderfragen anbrachte, wo andere Theorien hatten. Doch all das blieb folgenlos, weil die Welt komplexer ist, als Moore sich das vorstellt.
Drollig sind Moores Späße schon
Das ist weder ein neuer Befund, noch wird er von „Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte“ in Frage gestellt. Detailinformationen mögen uns erschrecken, die Gesamtdiagnose aber bleibt banal. Und in ihrer unfassbaren Schlichtheit von denen da oben und dem Rest ganz unten, ihrem unerschütterlichen Glauben an eine sozusagen systemische Verschwörung gegen das Volk, zementiert sie genau die Verhältnisse, um deren Veränderung es Moore vermeintlich geht. Wo alles Böse derart genau ineinandergreift, ist kein Raum für Widerstand, und uns bleibt nichts anders übrig, als uns von Moore und seinen Späßen unterhalten zu lassen.
Die sind im aktuellen Fall nicht immer so schlecht. Zwar sucht er sich offenbar einen Sonn- oder Feiertag aus, um vor der Citibank in der menschenleeren Wall Street durch ein Megafon „unser Geld“ zurückzufordern oder mit Polizeiband den Tatort Börse abzusperren („Crime Scene“ steht dann dort um einen ganzen Block herum auf Endlosband zu lesen) - aber drollig ist es schon. Und wenn er dann einmal den Mund hält und zum Beispiel Franklin D. Roosevelt sprechen lässt, der im Jahr 1944 eine zweite „Bill of Rights“ forderte, weil individuelle Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit nicht zu haben wäre, um anzufügen, hungrige Menschen ohne Arbeit wären der Stoff, aus dem Diktaturen gemacht sind, dann erinnert man sich daran, was einem in Michael-Moore-Filmen so dringend fehlt: das Dokument und die Zeugenschaft, für die Dokumentarfilme gemeinhin stehen. Hier hat Moore einmal ein Dokument gefunden, das für sich spricht, das er nicht manipuliert und nicht übertönt. Allein für diesen Ausschnitt lohnt es sich, seinen Film zu sehen.