Filmkritik „Zwei Leben“ : So verloren die Kinder des Lebensborns ihre Geschichte
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Die gestohlenen Biographien der Lebensborn-Kinder waren die perfekte Tarnung für eine DDR-Agentin im Kalten Krieg: Juliana Köhler in „Zwei Leben“ Bild: dpa
„Zwei Leben“ ist der deutsche Kandidat für den Auslands-Oscar. Schauplatz der Tragödie der Lebensborn-Kinder sind die DDR und Norwegen. Georg Maas hat sie verfilmt.
Drei maschinengeschriebene Seiten, 91 Namen. Unter der Überschrift „Anwesende Kinder im Kinderheim Kohren-Sahlis (April 1945)“ stehen fünf Spalten: „Name“, „Vorname“, „Geb.Tag“, „Geb.Ort“ sowie „wohnt jetzt“. Die Seiten sind nachlässig fotokopiert, eine sechste Spalte am linken Rand ist stark beschnitten, Einträge fehlen, hier und da sind die letzten Buchstaben auszumachen. Es geht um die Staatsbürgerschaft der Heimkinder: Bei den meisten steht „dt.“, bei 35 „w.“ oder „rw.“, beim Rest „norw.“. Wegen dieser 35 Norweger und Norwegerinnen ergänzte die Staatssicherheit in der DDR die ursprüngliche Liste in den frühen sechziger Jahren um die Spalte „wohnt jetzt“. Man hatte Großes mit ihnen vor. Die Liste wurde 1965, vielleicht auch später aktualisiert. Da waren die Kinder, um die es geht, schon erwachsen.
Im April 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht Norwegen. Im Juli meldet sich eine junge Frau bei einer deutschen Dienststelle: Sie sei von einem deutschen Soldaten schwanger. Traditionell kümmern sich Armeen nicht um Ausländerinnen, die von ihren Soldaten geschwängert werden. Diese Nachricht aber begeistert die SS und vor allem deren Reichsführer Heinrich Himmler: Deutsche zeugen mit arischen Norwegerinnen arische Kinder! Die gilt es für Deutschland zu sichern.
In der DDR wurden sie staatenlos
Binnen kürzester Zeit wird im Land eine Zweigstelle des deutschen Lebensborn e. V. aufgebaut, um Schwangere und ihre Kinder zu registrieren. Damit die Norwegerinnen sich beim Lebensborn melden, lockt man mit großzügigen Leistungen: kostenlose Unterbringung in Entbindungs- und Kinderheimen, Erstlingsausstattungen, hohe Unterhaltszahlungen. Die ledigen Frauen erleben diese lückenlose Betreuung als Hilfe in schwierigen Zeiten. Sie ahnen nicht, dass sie Teil eines rassenpolitischen Projekts sind, dass es Überlegungen gibt, sie und ihre Kinder eines Tages zur „Aufnordung des Blutes“ nach Deutschland umzusiedeln.
Wenn eine Frau ihr Kind nicht behalten will, übernimmt der Lebensborn alles Weitere. Die Mütter werden nicht zur Abgabe gezwungen, man verschweigt ihnen aber, dass das Kind möglicherweise nicht im Land bleiben wird. Die als „rassisch einwandfrei“ Klassifizierten sind deutschen Adoptiveltern vorbehalten.
Die norwegischen Behörden stemmen sich gegen die Adoptionen: Die unehelich geborenen Kinder sind, wie ihre Mütter, norwegische Staatsbürger. Selbstverständlich setzen sich die Besatzer durch, bis Kriegsende werden zweihundert bis 250 Kleinkinder nach Deutschland geschickt.
Die meisten Transporte enden in Kohren-Sahlis bei Leipzig, die Kinder bleiben im dortigen Lebensbornheim Sonnenwiese, bis Familien für sie gefunden sind. Als die Amerikaner im April 1945 nach Kohren-Sahlis kommen, leben dort neunzig Kinder im Alter von unter fünf Jahren - das sind die Namen auf der Liste. Dem neuen Bürgermeister fehlen die Mittel, um das Heim weiterzuführen, denkbar auch, dass er keine große Neigung hat, sich um eine Einrichtung der SS zu bemühen. Jedenfalls ordnet er am 19. Mai 1945 an, dass „die Kinder im Kreis Borna in Pflegestellen unterzubringen“ seien. Konkret bedeutet das, dass jeder Interessierte ins Heim kommen, ein Kind aussuchen und gleich mitnehmen kann.