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Neuer Film von Jacques Audiard : Fremde, wenn wir uns vermissen

Flüchtige Umarmung: Noémie Merlant als Nora und Makita Samba als Camille in Jacques Audiards Film Bild: Neue Visionen Filmverleih

Selten hat man im Kino so körperlich gespürt, was Jugend heißt: Jacques Audiards Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist ein romantisches Märchen in den Kulissen der Moderne.

          3 Min.

          Die Olympiades sind ein Ensemble von acht Wohntürmen rings um eine Einkaufspassage im dreizehnten Arrondissement von Paris. Jeder der Türme ist nach einer Olympiastadt benannt: Athen, Cortina, Sapporo . . . Das Bauprojekt, das in den Sechzigerjahren im Geist Le Corbusiers be­gon­nen worden war, wurde 1974 durch ein präsidiales Dekret gestoppt. Die Hoffnung der Stadtplaner, durch den Bau von Eigentumswohnungen die aufstrebende Mittelklasse in den Ostteil von Paris zu locken, erfüllte sich nicht. Stattdessen siedelten sich vor allem asiatischstämmige Familien, darunter viele Bootsflüchtlinge aus Vietnam, in den Türmen und an­gren­zenden Wohnblocks an. Um die Jahrtausendwende lebten mehrere zehntausend Franzosen asiatischer Herkunft in den südöstlichen Stadtvierteln von Paris.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Jacques Audiards Film, der im Original so heißt wie das Viertel, in dem er spielt, ist nicht nur die Geschichte von vier Personen, sondern auch eine Er­kun­dung ihrer Lebenswelt. Man sieht hier Aufzüge, Terrassen und Fußgängerzonen, dafür fehlen die Autos, die sonst zum Inventar des französischen Kinos gehören. Wenn Camille und Nora, die ge­mein­sam eine Immobilienagentur betreiben, zu einer Wohnungsbesichtigung müssen, nehmen sie die Mé­tro. Zur epischen Ironie des Films gehört, dass die beiden ihren Kunden keine Flats in den Olympiatürmen verkaufen, sondern teure Altbau-Appartements im Pariser Westen. Dafür kehrt die Ge­schich­te immer wieder an den Ort zu­rück, von dem sie ihren Ausgang genommen hat, in die Hochhauswohnung von Émilie.

          Der Film beginnt damit, dass Émilie (Lucie Zhang) nackt auf ihrer Couch sitzend mit ihrer Karaoke-App ein chinesisches Lied singt. Neben ihr liegt Camille (Makita Samba), und während das Paar vom Singen über die Liebe zu ihrem Vollzug übergeht, schwenkt die Kamera weiter zu den erhellten Fensterfronten der nächtlichen Türme und ins Morgenlicht des nächsten Tages. Danach erfahren wir, wie das Glück der beiden begann – und wie schnell es endet. Émilie hat Camille kennengelernt, weil sie eine Untermieterin für die Wohnung suchte, in der sie nach dem Umzug ihrer Großmutter in ein Pflegeheim lebt. Aber Camille will keine feste Partnerin, er reißt sich aus Émilies Armen los: „Du bist verliebt, ich nicht.“ Und sie entgegnet: „Du wirst mich vermissen.“

          „Les Olympiades“ ist nach mehreren Graphic Novels des amerikanischen Co­mic­zeich­ners Adrian Tomine entstanden. Tomines Geschichten spielen in New York, meist unter den Nachkommen asiatischstämmiger Einwanderer. Jac­ques Au­diard hat in ihnen eine neue Variation des Motivs der Suche nach Heimat ge­fun­den, dem er in mehreren seiner Filme nachgegangen ist, zuletzt in „Dheepan“ und „Ein Prophet“. Nur dass Émilie und Camille, deren Vorfahren aus Taiwan und Westafrika stammen, eigentlich kein Zu­hau­se suchen. Sie haben es schon. Sie su­chen ein Leben. Émilie hat studiert, aber keinen Beruf, sie jobbt in einem Callcenter. Camille ist Französischlehrer in einem Lycée in der Nähe. „Wir werden unterbezahlt, verhöhnt, überwacht und mundtot gemacht“, sagt er einmal über seinen Schulalltag. Aber das ist schon im nächsten Kapitel des Films, in der Geschichte von Nora.

          Kein Neorealismus, sondern pure Phantasie

          Nora (Noémie Merlant) ist aus Bordeaux nach Paris gezogen, um Jura zu studieren und einer langjährigen Beziehung mit ei­nem älteren Mann zu entfliehen. „Von meinem Fenster sehe ich die Seine“, verkündet sie freudig am Telefon ihren Eltern. Doch die Euphorie täuscht. Anders als Ca­mille und Émilie, für die ihre Hautfarbe so selbstverständlich ist wie für den Film, fühlt sich Nora mit ihrer Erscheinung unwohl. Für den ersten Abend, an dem sie tanzen geht, kauft sie sich eine blonde Perücke, ohne zu ah­nen, dass sie dadurch einer Pornodarstellerin ähnelt, die unter dem Namen Amber Sweet im Internet ihre Dienste anbietet. Die Verwechslung bringt Nora an den digitalen Pranger. Im Hörsaal schlägt das Getuschel der anderen Studenten über ihr zu­sam­men. In einer Nacht wird sie von der Außenseiterin zur Ausgestoßenen.

          Bis zum ersten Auftritt von Amber Sweet und danach bis zum Schluss ist Audiards Film schwarzweiß. Das macht es leichter, sich auf das Wichtige in der Geschichte zu konzentrieren: die vertikale Architektur, die horizontalen Bewegungen, das Au­gen­duell der Liebe. Nur die Sex-Performance reißt ein Loch in das Bildergeflecht. Mit der Farbe, die aus der Livecam auf die Leinwand kippt, werden wir darauf gestoßen, dass „Les Olympiades“ kein wiedererweckter Neorealismus ist, sondern pure Phantasie. Audiard bezeichnet den Film als Märchen, und tatsächlich könnte die Geschichte, zieht man den Anblick nackter Körper ab, auch vor langer Zeit spielen. Es ist, als wäre in die erkalteten Betonhüllen der Mo­der­ne der romantische Zauber zurückgekehrt. „Paris changé!“ hat Baudelaire einst geklagt, aber bei Audiard ist gerade der un­auf­hör­liche Wandel der Stadt das Geheimnis ihrer Lebendigkeit, der Zu­strom von Fremden, die zu Einheimischen werden, der Gleichklang von chinesischen Schlagern und französischen Chansons.

          Wie der Film seine Figuren zusammenbringt, ist ein eigenes Kunststück. Fast wä­ren sich Nora und Camille schon vor der Sorbonne begegnet, aber dann übernimmt er, vom Lehrerdasein frustriert, das Immobilienbüro eines Freundes, und sie kehrt in ihren alten Maklerberuf zurück. Als sie für einen chinesischen Kunden eine Übersetzerin brauchen, kommt auch Émilie wieder ins Spiel. Jetzt könnte ein klassisches Liebesdreieck entstehen, aber Audiard löst die Konstellation rasch wieder auf. Camille kehrt zu Émilie zurück, und Nora gerät in den Bann der Frau, die ihr am fremdesten ist, obwohl sie ihr ähnlich sieht.

          Das Entscheidende an Audiards Film kann man nicht beschreiben. Es ist der Fluss, der Flow, der durch die Bilder geht, das Ineinandergleiten der Szenen und Räume. Selten hat man im Kino so körperlich gespürt, was Jugend heißt: eine Leichtigkeit, die dem Schlummer vor Tagesanbruch gleicht. Jacques Audiard wird Ende April siebzig, aber sein Kino ist noch lange nicht zum Starrsinn des Alters erwacht. Möge es ewig weiterträumen.

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