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Kino der Demenz : Der Mann, der früher Doktor Lecter war

König Lear ohne Reich: Anthony Hopkins als Anthony in „The Father“ Bild: Tobis

Im Filmdrama „The Father“ gibt Oscarpreisträger Anthony Hopkins einen Anthony, der ihm sehr ähnlich und doch dement ist. Sein Spiel dementiert zugleich diese Diagnose.

          4 Min.

          Wenn dieser Film, nach all seinen narrativen Winkelzügen, all den Tricks und Täuschungsmanövern, die man oft durchschaut und manchmal auch verabscheut hat, so langsam zu Ende geht, weil sein Held am Ende ist, so traurig, einsam, demoralisiert, dass er, ein Mann in seinen Achtzigern, nur noch nach seiner Mutter schreien kann – wenn „The Father“ also zu Ende geht, ist man doch hereingefallen auf den Film. Und fühlt sich, wenn man nicht sehr hartgesotten ist, erschüttert, vielleicht sogar gerührt.

          Claudius Seidl
          Redakteur im Feuilleton.

          Was vor allem an Anthony Hopkins liegt, der hier einen Anthony ohne Nachnamen spielt, einen Mann, der mit Hopkins sogar das Geburtsdatum gemeinsam hat. Früher, sagt seine Tochter, war er Ingenieur. Früher, erzählt er einer Pflegerin, war er Stepptänzer. Und demonstriert sein Können gar nicht mal so schlecht. Später wird er behaupten, er sei als junger Mann beim Zirkus gewesen. Seine Erinnerungen sind ihm durcheinandergeraten, aber als Zuschauer glaubte man ihm auch, wenn er behaupten würde, er sei früher Doktor Lecter gewesen. Oder Coleman Silk, Professor van Helsing, Lieutenant William Bligh, Richard Nixon, Pablo Picasso. Er ist Anthony, geboren am 31. Dezember 1937, wie das Drehbuch und Wikipedia wissen.

          Schimpfen, Jammern, Schmeicheln, Hassen

          Jetzt ist er König Lear, nur dass er kein Reich zu vererben hat, nur eine schöne, große Wohnung im teuren London. Seine Lieblingstochter Lucy scheint tot zu sein, wovon Anthony aber nichts wissen will. Seine Tochter Anne, die ihn anscheinend liebt, sich um ihn kümmert, ihn betreut, wird nicht besonders gut behandelt von ihm. Und manchmal regelrecht gequält. Anthony sei dement, heißt es; und die Inszenierung, immer bemüht, symbolischen Mehrwert zu generieren, lässt ihn ständig seine Uhr verlegen, verlieren, vermissen, womit sein größtes Problem schon angezeigt ist. Wenn der Film beginnt, sitzt Anthony in einem Sessel, hat Kopfhörer auf, hört Henry Purcell – und als er Anne entdeckt, schnauzt er sie an: was sie wolle, wie sie hereingekommen sei.

          Anthony und Anne (die von der großartigen Olivia Colman gespielt wird): das ist die Liebesgeschichte dieses Films. Sie duldet, kümmert sich, bleibt ruhig, vernachlässigt ihren Mann für den Vater. Er schimpft, jammert, schmeichelt, flüstert, schreit, hält große Reden. Auch als Zuschauer ist man verführt, ihn zu lieben, zu hassen, zu verachten dafür, und einmal, nach einem besonders bösartigen Auftritt, bescheinigt ihm auch die Tochter, wie virtuos er in der Rolle war: Als er erschöpft im Bett liegt, ist sie versucht, ihn zu ersticken. Anthony Hopkins hat für die Rolle einen Oscar gewonnen – und genau diese amtlich bescheinigte Brillanz ist das erste Paradoxon dieses Films. Die großen Schauspielsuperkönner mit ihrer verschärften Mimikry, ihrem totalen Als-ob verweisen ja immer viel stärker auf sich selbst, als wenn einer, um einen Polizisten zu spielen, sich eine Mütze aufsetzt und seine Sätze herunterrattert. Und Anthony Hopkins, der deshalb mehr echter Hopkins als fiktionaler Anthony ist, wenn er hoch konzentriert, kraftvoll, mit verführerischer Präsenz den verwirrten alten Mann spielt, dementiert mit diesem Spiel zugleich die Diagnose.

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