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Filmfestspiele Venedig : In Schabbach, um Schabbach, aus Schabbach hinaus

  • -Aktualisiert am

Sie alle wollen fort, nur fort aus der Welt der deutschen Romantik: Ein Auswandererzug, unterwegs in „Die andere Heimat“, inszeniert von Edgar Reitz. Bild: dpa

Die Deutschen beim Filmfestival in Venedig: Rick Ostermann überzeugt, Philip Gröning enttäuscht. Edgar Reitz hingegen triumphiert mit einer mehr als meisterlichen „Anderen Heimat“.

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          Deutschland hätte gleich zu Beginn des Festivals nicht präsenter sein können am, ach, so italienischen Lido. Alle drei Beiträge aus dem manchmal beargwöhnten, oft bewunderten Germania landeten am Anfang des Festivalprogramms und stellten - jedes Werk auf seine Weise - eine sture, vergrübelte, seltsame, phantastische Kultur vor, die oft genug nicht einmal von den Deutschen selbst begriffen wird. Aber wozu gibt es das Kino, wenn nicht zum Stellen und Lösen von Bilderrätseln?

          Rick Ostermanns „Wolfskinder“ erzählt die Geschichte von Kriegsopfern, deren Hölle erst nach dem Waffenstillstand beginnt. Es geht um die verschollenen Kinder, die nach dem Zusammenbruch 1945 durch die Wälder Ostpreußens vagierten, im Überlebenskampf mit der Natur und der Roten Armee. Ostermanns Spielfilmdebüt mit Panoramabildern der urzeitlichen Wälder Litauens bietet einen überzeitlichen Rahmen für das brutale Geschehen. Die Schicksale seiner - wie immer - genialen Kinderdarsteller nimmt Ostermann so beinahe aus dem Zweiten Weltkrieg heraus, den diese Opfer sowieso nicht verstehen, und erinnert dadurch an Millionen von Kindersoldaten und Kinderflüchtlinge von heute. Der Wald, die Tiere, die Gewässer - sie zeugen von einer Natur, die mitleidlos ist, aber nicht böse. Nur die Menschen sind beides.

          Deutsche Filme, die bis zu vier Stunden dauern

          Auch in Philip Grönings Festivalbeitrag „Die Frau des Polizisten“ ist ein Kind in der Natur unterwegs, aber da ist es eine öde Baumplantage im Münsterland, in der ein kleines Mädchen Ostereier sucht. Mit unglaublicher Verachtung jedes Erzähltempos, ja jedes Erzählens überhaupt zwingt dieser Purist des Kinos sein leidendes Publikum in den ereignislosen Alltag seiner Protagonisten. Minutenlang muss man stummen Kleinbürgern beim Schuhebinden oder Schlafen zuschauen, oft genug auch entlaubten Bäumen beim Wachsen. Bilder einer Überwachungskamera an einer verlassenen Straßenkreuzung zwischen Stadtlohn und Borken hätten auch gereicht.

          Grönings dreistes Dreistundenschlafmittel in Filmform wird an Dauer von Edgar Reitz’ fast vierstündigem Epos „Die andere Heimat“ noch übertroffen. Deutsche, das wissen die Italiener, sind nun mal gründlich. Doch was für ein Kontrast! Reitz verlässt sein mythisches Hunsrücker Weltdorf Schabbach naturgemäß auch diesmal nicht. Doch diesmal bedeutet „Heimat“ die arme, von Feldarbeit, Kirchendienst und Enge geprägte Dorfwelt um 1840, die dem Mittelalter viel näher ist als der digitalen Gegenwart.

          „Die andere Heimat“

          Unfassbar detailreich und voller Hochachtung nähert sich der Film mit mythisierendem Schwarzweiß seinen Charakteren: dem zähen Schmied Johann Simon (im wirklichen Leben ein echter Hunsrücker Hufschmied) und seinem schwärmerischen Sohn Jakob, der von der Dorfschule die eigene Hochbegabung in ein Selbststudium südamerikanischer Bräuche ausgebaut hat - und für Lektüre und Vokabeltraining in Indianersprachen vom Vater regelmäßig verdroschen wird.

          Denn für Müßiggang und Selbstverwirklichung ist inmitten schrecklicher Armut, wo allzeit gewebt, geackert, geschleppt, gescheuert und geflochten wird, kein Platz. Und doch gibt es Lichtblicke wie den selten gewordenen Achat, den ein paar schrullige Spezialisten schleifen können und den Reitz kurz ebenso in goldgelber Farbe aufleuchten lässt wie die roten Kirschen an einem Sommerbaum oder einen Kometen am Himmel. 

          Vormärz, Sozialgeschichte und Drama in einem

          Jakob Simon, notabene der Urahn der späteren „Heimat“-Sippe, schafft es mit zähem Sinn fürs Irreale anfangs aus dem verlausten Schabbach heraus. Gespielt mit beseeltem, fast abwesendem Seherblick vom famosen Jan Dieter Schneider, gerät er mit dem ausbeuterischen Feudaladel in Konflikt, landet in preußischer Festungshaft - und muss seinen hart erkämpften Platz auf einem Auswandererboot nach Brasilien dann doch seinem Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) abtreten, der ihm schon das angebetete Jettchen (Antonia Bill) weggeschnappt hat.

          Diese Vision von individueller Sehnsucht inmitten von kollektivem Zwang als Meisterwerk zu bezeichnen, wäre verfehlt. Der Film ist viel mehr: eine Sozialgeschichte, eine Studie der Langsamkeit vor der motorisierten Welt, ein Drama des kollektiven Lebens, eine raffinierte Psychostudie vor Erfindung der Psychologie.

          Zwischen Moselfränkisch und Literaturdeutsch

          Und nicht zuletzt - oszillierend zwischen dem kräftigen Moselfränkisch und dem unübertroffenen Literaturdeutsch von Goethe, Tieck und Heine - eine bewusst pathetische Hommage an die Weltheimat der Romantik, an die Kraft der Neugier und des Wissens. Wenn auf der Mosel zu Vormärzliedern ein Demokratenkahn heranrudert und Reitz die schwarzrotgoldene Fahne ganz unmerklich aus der waldeinsamen Schwarzweißlandschaft heraushebt, dann ist das weder nationalistisch noch kitschig, sondern zutiefst berührend. Denn es klingt an, was aus diesem Land, ja diesem Kontinent ohne ein Jahrhundert preußisch-nazistischer Gewaltorgien hätte werden können.

          Nichts ist hier mehr zu finden von der manchmal etwas selbstverliebten Lindenstraßen-Ästhetik früherer „Heimat“-Staffeln, in denen sogar Kurt Beck auftreten durfte. Vielleicht hat der Abgrund zwischen heutiger medialer Rundumversorgung und damaliger agrarischer Subsistenz den Kulturpessimisten Reitz und seinen Koautor Gert Heidenreich besonders inspiriert: Diese harte Heimat, in der die Kinder starben wie die Fliegen und die verschreckten Menschen nur im Zusammenhalt überlebten, ist uns unerreichbar fern.

          Ganz am Schluss hat Werner Herzog einen Cameo-Auftritt als Alexander von Humboldt, der als größter Geistesheros seiner Zeit das kleine Schabbacher Genie besuchen will, das aber verstört in den Wald davonläuft - und es natürlich niemals nach Amerika schaffen wird. Man muss, unter dem frenetischen, überhaupt nicht endenden Applaus des Publikums von Venedig, lange suchen, um in der Kinogeschichte ein ähnlich gelungenes Epochenwerk zu finden.

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